Am blutroten Faden der Judenfeindlichkeit

Drei Honoratioren der Jüdischen Gemeinde, Andreas Nachama, Julius Schoeps und Hermann Simon, haben einen prächtigen Band über die Geschichte der Juden in Berlin herausgegeben: Sie zweifeln, ob es zur neuen Blüte ihrer Gemeinschaft in der Hauptstadt kommt. Ein Buch als Standortbestimmung

von PHILIPP GESSLER

Es ist noch gar nicht so lange her, vielleicht, zehn, fünfzehn Jahre, da bekam Andreas Nachama, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, recht häufig Besuche von Journalisten aus den USA – Visiten melancholischen Charakters. Denn damals, so erinnert sich der frühere Kulturmanager und Geschäftsführer der „Topographie des Terrors“, wurde er ausgefragt über das langsame Vergehen der jüdischen Gemeinschaft in ihrer vormaligen Hochburg Berlin. Heute dagegen hat sich das geändert: „Fast jede Woche klopft bei mir ein amerikanischer Journalist an und fragt mich nach dem Revival des jüdischen Lebens.“ Waren die Trauergesänge damals so verfehlt wie die Hymnen von heute?

In dem jüngst erschienenen Band „Juden in Berlin“ geben die Herausgeber in ihrem Vorwort eine nüchterne Antwort auf solche Fragen: Neben Nachama zeigen sich der Leiter des Centrum Judaicum, Hermann Simon, und Julius Schoeps, Direktor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam, skeptisch: „Die Frage bleibt offen“, so schreiben diese Honoratioren der Gemeinde, „ob es in Berlin wieder ein lebendiges jüdisches Leben geben wird, wie es vor 1933 der Fall war.“

Die Frage stellen heißt sie verneinen – schon mangels Masse. Denn während bis 1933 über 160.000 Juden in der Hauptstadt lebten, ist es heute gerade mal ein Zehntel davon, 12.000. Und, das macht der 264-Seiten-Band auch deutlich: Die einzigartige jüdische Kultur Berliner Provenienz „ist heute unwiderruflich verschwunden“. Es dient insofern auch der Standortbestimmung – eine, die den Leser melancholisch machen kann. Denn um zu erkennen, wie viel die Nazis in nur zwölf Jahren bis 1945 zerstörten, genügt ein Blättern im Band mit den fantastischen Illustrationen. Welch ein Verlust!

Dabei widersteht das Werk der Versuchung, die Geschichte der Juden in Berlin, die 1295 mit einer erstmaligen Erwähnung offiziell beginnt, als reine Erfolgsgeschichte, wenn auch ohne Happy End, zu beschreiben – denn der Judenhass zieht sich trotz aller (Fort-)Schritte bei der Integration in die christliche Mehrheitsgesellschaft wie ein blutroter Faden durch die Jahrhunderte:

Noch 1510 etwa, da Juden schon Jahrhunderte an der Spree wohnten, wurden 38 von ihnen wegen einer angeblichen „Hostienschändung“ auf dem Neuen Markt öffentlich verbrannt. Der angeblich so tolerante Alte Fritz presste seine jüdischen Untertanen noch schlimmer aus als sein antisemitischer Vater, der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhem I. (1688–1740). Und selbst nach der völligen rechtlichen Gleichstellung nach 1870 klagte Walter Rathenau, der zeitweilige Außenminister der Weimarer Republik, obwohl nach außen vollständig assimiliert und viel bewundert: „In den Jugendjahren eines jeden deutschen Juden gibt es einen schmerzlichen Augenblick, an den er sich zeitlebens erinnert: Wenn ihm zum ersten Mal voll bewußt wird, daß er als Bürger zweiter Klasse in die Welt getreten ist und daß keine Tüchtigkeit und kein Verdienst ihn aus dieser Lage befreien kann.“ Am 24. Juni 1922 wurde Rathenau in der Königsallee im Grunewald von Mitgliedern einer rechtsextremistischen Gruppe erschossen.

Spätestens mit diesem Mord steigerte sich das Leben der Juden in Berlin sukzessive zum Alptraum: Bedrückend schildern die Kapitel über die Weimarer Republik und die Nazizeit, wie der Antisemitismus nach und nach zur Staatsräson wurde, der im Massenmord gipfelte. Von den etwa 160.000 Juden Berlins überlebten nur 8.000.

An Nachama ist es, im Buch das zaghafte Wiederaufleben der Gemeinde nach der Shoah zu beschreiben – wobei er nicht die Größe besitzt, seine eigene Fehde mit Rabbiner Walter Rothschild zu vergessen: Rothschild wird in der Aufzählung der liberalen Gemeinderabbiner schlicht verschwiegen.

Dennoch ist der Band alles in allem eine hinreißende Lektüre geworden, die gerade für das nichtwissenschaftliche Publikum reichen Lesegenuss verspricht. Und wenn der nächste amerikanische Journalist Nachama nach dem Revival der jüdischen Gemeinde befragt, kann er ihm das Buch übergeben – vielleicht mit einem Lächeln der Hoffnung.

A. Nachama, J. Schoeps, H. Simon (Hg.): „Juden in Berlin“. Henschelverlag, Berlin 2001, 264 Seiten, 49,90 DM