pampuchs tagebuch: Die Gewalt geht vom Volk aus
Der Münchner Wedekindplatz im Herzen Alt-Schwabings ist ein historisch interessantes Fleckchen. Von 1899 bis 1901 schrieb hier an der Ecke Thomas Mann seine Buddenbrooks, gleich daneben versteckte sich 1919 Ernst Toller vor den Weißen Garden. In den 50er-Jahren sang die Chansonette Gisela in ihrem Club vom Novak, der sie nicht verkommen ließ, und 1962 gingen hier die Schwabinger Krawalle los: Ein bayerisches Pionierstückerl, das später weltweit unter dem Titel „68“ aufgeführt wurde. Wir Münchner 68er wirkten damals in der bei Bullen wie Schweinen gleichermaßen gefürchteten „Verputztruppe“ in den Straßen rund um den lauschigen Platz bei konspirativen Leberknödelattentaten und gewalttätigen Weißwurstorgien, deren revolutionäre Auswirkungen nicht nur die bürgerliche Wissenschaft, sondern auch den Staat gehörig zum Tanzen brachten. Ich stehe zu diesem frühen Kapitel in meiner Biografie. Die Gewalt geht vom Volke aus, das weiß man gerade in Bayern, wo die Wirtshausrauferei (manchmal auch unter Beteiligung von Schutzmännern) im Übrigen zum Brauchtum gehört.
Im Zuge der Globalisierung ist der Wedekindplatz heute an seiner Schmalseite mit einem McDonald’s gesegnet, in dem, so fürchte ich, die gute alte Weltrevolution nicht mehr so konsequent geplant wird wie ehedem. Interessanterweise hat aber gegenüber vor einiger Zeit das laut Abendzeitung beste Internetcafé Münchens (4 von 5 möglichen Mäusen!) aufgemacht. In der mit solchen Etablissements keineswegs gesegneten Landeshauptstadt ist das CyberIce-C@fe durchaus als Lichtblick zu werten. Ein Besuch in diesem Cafe hat mich kürzlich wieder einen Schritt weiter gebracht. Nicht gerade in Richtung Weltrevolution, aber doch auf dem langen Marsch durch die Interaktionen.
Bei einem wohlschmeckenden Cappuccino entdeckte ich nämlich über einem der Computerbildschirme einen dieser kleinen Fotoapparate. In anderen Internetcafés draußen in der Welt sind die inzwischen Standard, hier war leider nur ein Gerät mit diesem hübschen Spielzeug ausgestattet. Als der Platz frei wurde, habe ich wie ein kleines Kind mit dem Ding gespielt und dabei die moving pictures neu erfunden: Schnell hintereinander klickte ich etwa 50 Fotos von mir und schickte dann eine mir versandfähig erscheinende Sequenz an eine Vertraute. Da man – bei AOL zumindest – die Fotos bequem untereinander in die Mail packen kann, ergibt sich bei schnellem Runterklicken eine Art elektronisches Daumenkino. (Das papierne Original des Daumenkinos hat übrigens der lustige Früh-68er Werner Enke in seinem „Schätzchen“-Film entwickelt – ebenfalls im Dunstkreis des Wedekindplatzes.)
Die technische Qualität dieser E-Mail-Home-Movies ist gewiss verbesserungswürdig. Sie nimmt es aber durchaus mit den wackligen „Festivalclips“ auf, die man sich neuerdings unter www.filmgarten.com/puf_win.html angucken kann. Dabei bildet diese Webadresse einen interessanten Schritt auf dem Weg zum Internetkino. Andererseits fällt einem beim Betrachten der Filmchen auf, dass Inhalte derzeit nicht gerade groß geschrieben werden. Das kam mir, als ich bei meinem Bildchenschießen versonnen hinaus auf den Platz blickte, übrigens auch in den Sinn. Vielleicht war es ein Segen für Thomas Mann, Toller und die 68er, dass sie nicht über ein Internetcafé stolperten, wenn sie auf ihrer Suche nach Sinn durch Alt-Schwabing spazierten. Als simple content provider wären sie wohl nur halb so interessant gewesen. Und doch wissen wir Pioniere vom Wedekindplatz, dass alle großen Bewegungen mit kleinen, aber fantasievollen Versuchen beginnen – auch im Netz: Wir hätten längst ein schlimmes End’ genommen, aber die Software lässt uns nicht verkommen. THOMAS PAMPUCH
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