Aus Liebe zum Kino

Manfred Salzgeber war einer der großen Inspiratoren der Berlinale und Erfinderdes schwul-lesbischen „Panorama“-Schwerpunkts. Vor acht Jahren starb eran den Folgen von Aids. Eine Erinnerung

von KATJA NICODEMUS

Es muss so um 1990 gewesen sein. Da schwappten nach der Premiere von Paulus Mankers Film „Weiningers Nacht“ noch ein paar Leute in die Paris Bar. Irgendwann nach dem Dessert, zwischen Verleiheranekdoten, Lästereien über die träge Aidshilfe und der nächsten Weinflasche sagte Manfred Salzgeber beiläufig, er sei HIV-positiv. Unser betretenes Schweigen und verlegenes Starren auf die Tischdecke war ihm dann aber irgendwie zu blöde: „Mensch, Kinders, ich bin ja nicht der Einzige auf der Welt, oder?“

Als Salzgeber drei Jahre später an den Folgen von Aids starb, stand in manchen Nachrufen pathetisch, er habe sich von der Krankheit nicht besiegen lassen. Natürlich wurde er von der Immunschwächekrankheit besiegt, aber er verweigerte sich bis zum Schluss der Haltung eines tragisch Erwählten ebenso wie dem Opferdasein. Aids war für ihn nichts als der „Scheißkrebs am Bein“, von dessen Fortschreiten er auf der kleinen Dachterrasse seines in Steglitz ansässigen Verleihs offen und fluchend erzählte.

Salzgeber, Filmverleiher, Festivalmacher, Filmaktivist und Begründer der Berlinalesektion „Panorama“, ist jetzt nicht einmal zehn Jahre tot, aber in der Erinnerung scheint er fast zu einer anderen Epoche zu gehören. Salzgeber, das sind die Siebziger-, Achtzigerjahre in Westberlin, die Anfänge der Schwulenbewegung, die ersten Männerküsse auf der Leinwand, politische Aktionen in kommunalen Kinos, verbeulte Filmdosen in VW-Bullis, Flugblätter . . . Aufbruch.

Zu einer Zeit, da der Kinomarkt ein Börsensegment geworden ist, Verleiher und Produzenten ihre Aktienwerte auf Festivals während der Vorführungen abfragen und mehr Fusions- und Investitionsmeldungen als Filmvorführungen in die Redaktionen flattern, hat die Erinnerung an Salzgeber etwas Anachronistisches: wie er im Vorfeld der Berlinale sein „Panorama“-Programm vorstellte, von der politischen Sprengkraft des palästinensischen Spielfilms zur kruden Ästhetik einer amerikanischen Aidsdokumentation sprang, zwischendurch von den hübschen Soldatenärschen des russischen Beitrags schwärmte und einen nicht nach Hause gehen ließ, bis man nach drei Stunden auch um die verborgenen Stärken der kanadischen Independentproduktion wusste; wie er während der Berlinale spätabends mit einem Longdrink an der Bar des Hotels Interconti stand und sich über die vollen Kinos freute.

Die Berlinale verdankt ihm ihr schwul-lesbisches Profil, was für ein so genanntes A-Festival übrigens bis heute einzigartig ist. Schwulsein, das war für Salzgeber nicht allein eine Frage der Sexualität („es ist ja nicht nur das bisschen Gerüttel, dem ich meine Identität verdanke“), sondern der Gefühlswelt und damit auch des Diskurses. So stand es für ihn außer Frage, dass die Eleganz der Filme von George Cukor eine homosexuelle und die von Lubitsch eine heterosexuelle war, und dass Cukor, so wie er Tanzende filmte, einmal mit einem Mann getanzt haben musste.

Diese Sensibilität und das Bewusstsein eines anderen Blicks ist bei ihm früh entstanden. Auf der Flucht vor den Russen nach Stuttgart mitgeschleppt, fühlte er sich im Schwäbischen immer fremd. Mit acht, neun Jahren schwärmte der kleine Salzgeber für Robert Mitchum und Gary Cooper, „aber meine Klassenkameraden fanden es gar nicht angebracht, sich über deren Titten und Kusslippen zu unterhalten. Mir wurde dann ziemlich bald klar, dass ich schwul war.“

Schwulsein, das bedeutete in den Sechzigerjahren, aus der Provinz nach Berlin zu wechseln. Nach einer Buchhändlerlehre und dem ersten Job in der Buchhandlung Marga Schoeller fing Salzgeber bald an, bei Berliner Kinoprojekten und der kommunalen Filmarbeit mitzumischen. Er war Mitbegründer des Arsenal-Kollektivs, der Freunde der Deutschen Kinemathek und des Forums. Er lernte die Szene kennen und einen Menschen namens Rosa von Praunheim, der damals noch in seiner Wohnung in der Crellestraße Achtmillimeterfilmchen drehte.

Mit der Liberalisierung des Paragrafen 175 in seiner Nazi-Fassung wurde es endlich möglich, einen deutschen Schwulenfilm zu drehen, und der sollte dem aufklärerischen Zeitgeist entsprechen. So entstand 1970 Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der lebt“ mit Salzgeber als Küsser in der längsten männlichen Kussszene der Filmgeschichte.

Im Fernsehen blieben von den viereinhalb Minuten zwar nur 45 Sekunden übrig, aber die waren immer noch provozierend genug für das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Mit der Filmkopie tourten Praunheim, Salzgeber und der Rest der Crew monatelang quer durch deutsche Lande, diskutierten in den Kinos, ermutigten zum Coming-out, ließen sich beschimpfen und auch mal mit Tomaten bewerfen – so begann die neue deutsche Schwulenbewegung.

Von dieser Zeit erzählte Salzgeber später nie mit dem Stolz des Pioniers, eher mit der belustigten Distanz von einem, der zufällig bei einer gelungenen Party dabei war. Mit einer Mischung aus Selbstironie, selbstverständlichem Politisiertsein und liebevollem Tratsch über den eigenen Klüngel.

Schnell und klar konnte er allerdings auch einen Schlussstrich ziehen, wenn es darauf ankam. Zum Beispiel bei Stammheim. Als die RAF in den Siebzigerjahren zum Staatsfeind Nummer eins wurde, als sich das politische Klima in der Bundesrepublik veränderte und er auf der Straße mehrmals als Schwuler und Linker angepöbelt wurde, zog Manfred Salzgeber nach Amsterdam. „Die Aufbruchstimmung war weg“, sagte er später, „und die RAFler wurden nicht mehr als Menschen angesehen. Mit manchen von denen hatte ich in meinem Kino gesessen und über Jeanne Moreau und Brigitte Bardot als Revolutionärinnen in ‚Viva Maria‘ gelacht.“

Dass sich die Geschichte von Salzgeber dann doch noch mit der Berlinale verbandelte, liegt an Moritz de Hadeln. Der Festivalchef holte ihn nach Berlin zurück und übergab ihm die so genannte Länderinfoschau, aus der ziemlich schnell das „Panorama“ wurde – ein hybrides, unorthodox politisiertes Programm aus Minderheitenkino, schwul-lesbischen Beiträgen, Aidsfilmen, Independents und vom Wettbewerb abgelehnten Publikumsfilmen.

Mit dem „Panorama“ gab es plötzlich ein Sammelbecken für all die merkwürdigen, schrägen, durchgeknallten und exzentrischen Produktionen, die sich irgendwo auf der riesigen Skala zwischen Mainstream und Experimentalfilm ansiedelten. Aber auch für politische Dokumentarfilme und die Auseinandersetzung mit dem Sterben, die Salzgeber so konsequent und ernsthaft durchzog, dass das „Panorama“ gelegentlich als Krebs- und Aidsfilmfestival bezeichnet wurde.

Die reine Festivalvitrine als einmalige und für die Filme letztlich folgenlose Show war Manfred Salzgeber dann irgendwann zu wenig. Als Arthur Bressans „Buddies“, eine sanfte, stille Geschichte und der erste Spielfilm über die Immunschwächekrankheit, 1985 keinen Verleih fand, gründete er kurzerhand seinen eigenen, die „Edition Salzgeber“: „Ich glaube nicht, dass je eine andere Firma auf der Welt aus so einer Stinkwut heraus entstanden ist.“ Was ist geblieben von dieser Wut, von dieser Emphase, von dieser unaufgeregten Militanz? Die „Edition Salzgeber“ besteht weiterhin, die Leitung des „Panoramas“ übernahm nach Salzgebers Tod sein langjähriger Mitarbeiter Wieland Speck (der mit ihm zusammen den „Teddy Award“ für den besten schwul-lesbischen Film initiierte).

Wäre ihm zu Ehren einfach nur ein weiterer Berlinalepokal aufgetaucht, Salzgeber selbst hätte es nicht die Bohne interessiert. Der voriges Jahr auf der Berlinale erstmals verliehene Manfred-Salzgeber-Preis ist allerdings mit dreißigtausend Mark Verleihförderung dotiert und bietet dem prämierten Film eine realistische Chance, irgendwann im Kino zu landen – ganz im Sinne des salzgeberschen Pragmatismus.

Manfred Salzgeber fehlt. Man kann nur ahnen, welche rhetorischen Arschtritte er der Neuen Mitte verpasst hätte und wie er sich weiter rot geärgert hätte. Über Asyldebatten und rechte Gewalt, die schleichende Entsolidarisierung und angebliche Leitkulturen. Er gehörte zu einer Generation, die für zu vieles gekämpft hatte, um es einfach an den Zeitgeist abzugeben. Und er wusste, dass das unbestimmte Andere eine Lobby braucht. Auch wenn es nicht so elegant daherkommt wie Cary Grant, wenn er in George Cukors „Holiday“ mit Katherine Hepburn tanzt.

KATJA NICODEMUS, 32, seit einem Jahr Filmredakteurin der taz, lebt in Berlin