Mit den Zeugnissen kommen die Briefe

■ Mädchengruppe in Schnelsen: Fünf von sieben Schülerinnen sollen vom Gymnasium auf die Hauptschule abgehen – denn Deutsch ist Hauptfach

Am Tag nach den Zeugnissen ist schulfrei. Schon mittags sitzen die Mädchen im Hausaufgabenraum des „Kinder- und Familienzentrums Schnelsen-Süd“. Sie warten auf den Beginn der Mädchengruppe und sind völlig aufgedreht. „Und, hast du schon den Brief aufgemacht?“ will Ösnur* von Esra* wissen. Die Zwölfjährige nickt.

Sieben der Kinder, die regelmäßig ins Zentrum kommen, besuchen die sechste Klasse des nahegelegenen Gymnasiums. Kinder von Einwanderern, deren Muttersprache Türkisch oder Farsi ist. Fünf Kindern wird nun empfohlen, die Schule zu verlassen.

„Mit Nachhilfe werde ich es vielleicht noch schaffen“, hofft Esra. Sie will unbedingt Abitur machen, Anwältin werden. Dagegen sprechen die Noten in Mathe und Deutsch. Wenn nur die Diktate nicht wären. „Mündlich bin ich gut“, sagt Esra. Eigentlich sei Deutsch sogar ihr Lieblingsfach. Aber dann kam das Diktat: „ck“ und „tz“ mussten sie richtig einsetzen. Esra: „Ich wurde nicht rechtzeitig fertig und bekam eine Sechs.“

Ihre Freundin Hava* hat den gleichen Brief bekommen, redet aber nicht gern darüber. Ob es Ärger zu Hause gab? Sie zuckt mit den Schultern. „Meine Mutter sagt, ich streng mich nicht genug an.“ Nun sollen Strafen und Belohnung helfen. Für jede Sechs in einer Klassenarbeit darf sie dreimal nicht zur Mädchengruppe kommen. Für jede Fünf zweimal, und bei einer Drei gibt es ein Geschenk. Hava: „Wenn ich eine Eins schreibe, schenkt sie mir einen Computer.“ Ihre Mutter sei „nur traurig“ gewesen, ergänzt Esra. „Die war ja nicht auf einer Schule und weiß nicht, wie schwer das ist.“ Ihr Vater hingegen hofft, dass der Wechsel zur Gesamtschule klappt. Zur Hauptschule, wie im Elternbrief empfohlen, wollen beide nicht.

„In der Schule gibt es Lehrer, die sind ausländerfeindlich“, findet Esra. Die Englischlehrerin zum Beispiel. Esra bekäme eine Fünf, obwohl sie sich mündlich viel beteilige. Und ein Deutscher, der nie seine Aufgaben macht, eine Drei. Leiterin Ulla Kutter formuliert es anders: „Die Schule müsste auf Kinder, die zweisprachig aufwachsen, mehr Rücksicht nehmen.“ Doof seien die nämlich keinesfalls. Und faul auch nicht. Aber die Kinder haben meist zu Hause niemanden, der ihnen helfen kann und stünden dennoch unter dem Erwartungsdruck der Eltern. Nicht umsonst fordere der Türkische Elternverein, die Kenntnisse in der Muttersprache bei der Versetzung ausgleichend zu berücksichtigen. Wenn Hava und Esra die Versetzung in Klasse sieben doch schaffen, kommt die vierte Sprache: Französisch oder Latein.

Englisch ist in der Freizeit sogar Lieblingssprache. Die Mädels singen unentwegt einen Song von „No Angels“: „I wonna be a daylight in your eyes.“ Party-Stimmung trotz allem. Bei der nächsten Notenvergabe, sagt Ulla Kutter, werde sie einfach gleich eine Zeugnisparty feiern. Renate Kiesselbach

*Namen geändert