Die Metzger der Form

■ Guy Schraenen zeigte das Ergebnis seiner jahrzehntelangen Sammleritis schon oft in der Weserburg, aber nun erstmals in großem Maßstab. Plakate, Bücher, Postkarten kommen dort zu high-culture-Ehren

Der Klang asiatischer Gongs bimmelt gemütlich von der Amnesia-Ausstellung in die zweite Etage herauf. Ein Diaprojektor summt sein Ratsch-ratsch mit bewunderungswürdigem Gleichmut. Als wär's als Kommentar gemeint, doziert gerahmt und verglast von der Wand herunter ein john-cagiger Satz: „Music is, what you are listening in that moment“. Also is music Bing und Ratsch – und Schweigen too. Deshalb steht auf einem Notenständer die doch immerhin acht!seitige Partitur „4:33“: 1. Satz: tacet, 2. Satz: tacet, 3. Satz: tacet – auch die Stille will getaktet sein.

Weil Wortkünstler Dieter Roth den Musikern in ihrer Großherzigkeit nicht nachstehen wollte, druckte er auf ein vergilbtes Katalogcover „Wußten Sie schon, daß alles Gedruckte gut ist?“. Das gilt natürlich auch für gewisse kleine Tageszeitungen. Toleranz gegenüber allem, egal ob Genie oder Schrott, ist aber nicht nur für deren Leser hilfreich, sondern auch beim Durchwandern der Ausstellung. Denn es ist bisweilen ein wenig mühsam, sich durch die Massen an Postkarten, Plakaten, Schallplattenhüllen, Multiples, Künstlerbüchern und Katalogen hindurchzunavigieren: allüberall Hinweise auf freakige Kunstspinnereien in Fluxustradition, aber nicht immer werden sie griffig und konkret.

Die Exponate stammen aus dem „Archive for Small Press & Communication“ (ASPC), jenen 35.000 „Ephemera“, die Guy Schraenen vorzugsweise in den 60ern und 70ern sammelte – „für die heutige Kunst dagegen interessiere ich mich absolut nicht“, recht so. Die Weserburg kauft ASPC in Etappen seit 1999 für schlussendlich 1,5 Millionen, und zwar unter Mithilfe der Stadt und diverser Sponsoren, die dafür ihren Namen auf einer metallischen Platte verewigt finden, was aus unerfindlichen Gründen als erstrebenswert gilt. „Nennen Sie bitte die Namen“, bekniet Museumschef Deecke die Presse, denn Sponsoren seien „wie Wolperdinger – alle Welt redet über sie, aber es ist gar nicht so leicht, sie zu Gesicht zu bekommen“. Weitere Spender und Sponsoren (hallo, LeserIn!) wären nicht unwillkommen.

Die Exponate stammen aus einer Zeit, in welcher der Kunstbetrieb – Museen, Galerien und die professionellen Kunstbequatscher – „als parasitär“, so Schraenen, empfunden wurde. Mit Billigware – Künstlerbüchern, Stempelkunst – suchte man die Tür ins Freie aufzustoßen, jenseits der Marktmechanismen; alternative Vertriebsformen – Mail art, Produzentengalerien – wurden entwickelt, um die grauhaarige Kunstwissenschaft und ihren Wertekatalog auszuschalten. Deshalb sieht Schraenen sein Archiv auch als Denkmal eines „politischen Konzepts“. Als Verleger (aber auch böser Galerist), unter anderem in Antwerpen, war Schraenen Teil des Netzwerks, wo man sich gegenseitig Unmengen an Drucksachen zuspülte. Im Unterschied zu seinen Kollegen konnte er aber nichts wegschmeißen.

Was „nicht bestimmt war, ins Museum zu kommen“ (Schraenen), hängt jetzt also unberührbar hinter Glas, in Stapel-Collagehängung à la Wolfgang Tillmanns. Vieles davon ist pure Betrachter-Hänselei. Timm Ulrichs ulkt: „Lesen Sie diesen Satz nicht zu Ende“ – und schon ist das Unglück geschehen. Peter Downsbrough (USA) stellt in einem Buch ein absichtlich-klägliches Würfel-Wettspiel vor und fordert den Leser/Spieler am Ende auf, 50 Prozent der Wetteinnahmen an ihn zu überweisen. Andere nehmen den Leser/Betrachter interaktiv bei der Hand. Robert Fillou plaudert in seinem „Multibuch“ (1967) aus seinem Leben und erwartet von seinem Leser als Gegenleistung seinerseits die Preisgabe von Intimitäten, schriftlich, mitten hinein ins Buch. Vor allem wird der hohe Ton des Kunstbusiness attackiert. Ein Plakat kündigt den Mexikaner Ruben Valencia als „Ripper der Kritik“ und Melquiades Herrera als „Metzger der Form“ an. Tim Roth reimt in seinen begnadeten duslig-romantischen Gedichten auf „schaukeln“ „entgegentaukeln“, als würde sein Hirn besoffen torkeln, äh, taukeln. Ein Buch dreist: „Ich bin ein Buch. Kauf mich“. Ein Stempel fragt so pathetisch, dass es schon wieder lustig wird „Are there solutions?“. Kunst quasselt.

Manche Objekte aber bleiben stumm. Was ist in den 24 Stunden geschehen, in denen laut Plakat NJPaik, Cellistin Moormann und Bazon Brock in einer Galerie zusammentrafen? Was war zu sehen, 1981, in Reimes in der modern klingenden Ausstellung „Kunst und Neue Technologie“? Ein paar Anekdötchen wären nötig, damit die fiebrige Stimmung der 60er nicht hinterm Vitrinenglas erfriert.

Wenn sogar ein Pissoir Kunst sein kann, dann auch eine Einladungskarte, dachte sich wohl Daniel Buren und bestückte einst eine Ausstellung ausschließlich mit nämlichen. Darauf zu sehen ist, was bei Buren immer zu sehen ist, seine 8,7 Zentimeter breiten Streifen. Natürlich kann man dieses gerahmte Geschenkpapier als Kunst bezeichnen, als gute Kunst aber eher nicht. Zwar: Einige Objekte haben den Zauber jenes flüchtigen Moments, welcher der gesellschaftlichen Routine auf ein paar Sekunden entronnen ist, so wie es Guy Debord und die Situationistische Internationale immer wieder beschworen. Gerade manche Plakate aber wirken heute ein wenig ärmlich, da können sie noch so oft von echten Künschtlern gestaltet sein.

Und so ist ASPC vielleicht weniger in seinen Einzelteilen spannend denn in der Summe: als Dokumentation einer Epoche, wo man an die Hippisierung der Gesellschaft – Leichtsinn, gute Laune und das situationistische „Arbeitet niemals!“ !!!! – glaubte. bk

Bis 6. Mai, Vernissage: Sonntag, 11.30 Uhr; das üppige Film- & Vortrags-Programm beginnt nächsten Dienstag mit Guy Schraenen.