Hörerohren revitalisieren

Mutationen des Blues: Sandy Dillon in der Fabrik  ■ Von Volker Peschel

„Sie war ihrer Zeit zehn Jahre voraus“, erklärt ihr damaliger Produzent Tony DeFries das kommerzielle Scheitern von Sandy Dillon. Der einstige Manager von Pop-Größen wie David Bowie sollte es wissen. Das war in den 80er Jahren, als sie erste Alben einspielte und als weiblicher Tom Waits bezeichnet wurde. „Die Leute mochten lieber Mädchen mit girlie voices und lo-ckigem Haar, verflucht!“.

Dabei begann die in Boston geborene Sandy Dillon ihre musikalische Laufbahn ganz klassisch mit elterlichem Klavier-Unterricht. An der nicht gerade unbedeutenden Berklee School of Music studierte sie Jazz und klassische Komposition. Die selbstkritische Einsicht: „Es gibt so viele gute Klassik- und Jazz-Pianisten, ich sollte wohl Songwriterin werden.“ Sie zog nach New York, spielte Janis Joplin in einem Musical, tingelte durch Bars und musizierte mit Dieter Meier, Jaco Pastorious oder Bowie-Gitarrist Mick Ronson, der ihre ersten, unveröffentlichten Alben produzierte. Im Herbst 1999 gelangte das erste reguläre Werk Electric Chair in die Plattenregale: spröde und nicht ausschließlich begeisternd, aber auch faszinierend roh und ungeschliffen. Vor einigen Wochen dann mit East Overshoe der Nachfolger.

Musikalisch ist das Feld blühend bestellt, das Dillon einst so müßig beackerte. Die Zeichen stehen günstiger für Sängerinnen ohne girlie voices. Augenscheinlich der Vergleich zu PJ Harvey, die sicher einen Blick auf das Treiben Dillons warf. Auch der Erfolg von Björk kann ihr im Nachhinein nur Recht geben. Doch selbst jetzt scheint sie das verschmähte Kind zu bleiben. Zu weit entfernt von jeder Gefälligkeit, von Pop, ist ihre Musik. Nichts umschmeichelt auf East Overshoe das Ohr, wo auf Electric Chair immerhin die wunderbare Ballade „Float“ vertreten war.

Mit Begeisterung und Faszination reagiert nahezu jeder, der die Gelegenheit hatte, sie live zu erleben. Doch woher die Gelegenheiten nehmen, wenn die gesamte Musik-Branche offenbar mit äußerst weichen Knien auf ihr Schaffen reagiert? Radio und MTV dürften verstörtes Wegschalten befürchten, und selbst die Giganten der Musikpresse zeigen sich unverständlich ignorant. „Menschen sagen mir: Wir haben jemand in Zwangsjacke und auf Prozac erwartet.“

Ein Album von Dillon ist eine ganz andere Kategorie. Roher und verschlossener wirken die Songs, fehlt doch Dillons erklärendes augenzwinkerndes Grinsen; fehlt doch, die Energie vor Augen zu haben, wenn sie auf dem Keyboard die eigenen Songs sichtbar durchleidet. Vor dem Genuss von East Overshoe warnt sie: „Es ist wild. Wenn du es durch Electric Chair geschafft hast, dann wird das neue Album das nächste Level, die nächste Ebene für dich. Ob man es nun hasst oder liebt.“ Die nächste Ebene also, und bitte schön kein zeitgemäßer Blues oder Ähnliches: „Damals sagte jemand: Beschreibe deine Musik. Also sagte ich: Es ist eine Mutation des Blues. Ich sagte niemals modern oder zeitgemäß, die Band hätte sich totgelacht. Inzwischen ist das Wort Mutation selbst wohl mutiert: in modern. Aber das ist es nicht.“

Zwei Gelegenheiten gab es vergangenes Jahr, die Wahl-Londonerin fasziniert bis ungläubig zu beobachten. Beim Hurricane Festival zog sie Neugierige vor die kleine Zeltbühne; beim JazzPort Festival eröffnete sie vor Ricky Lee Jones – und war für nicht wenige Besucher der weit stärkere Act. Also: die rare Gelegenheit ergreifen, über Live-Musik wahrlich staunen zu können; über heiter-morbiden Songs und skurrile Anekdoten zwischendurch. Oder um es in den Worten der Künstlerin zu sagen: „Konzertbesucher können von mir erwarten, dass ihre Ohren revitalisiert sind.“ Wenn das kein Angebot ist.

Sonnabend, 21 Uhr, Fabrik