Feuer im Puppenhaus

Daily Soap und Sozialreport: Alain Platels „Allemaal Indiaan“ an der Schaubühne

Alain Platel und das Tanztheaterkollektiv „Les Ballets C. (Contemporains) de la B. (Belgique)“ gehören zu den Verbündeten der Schaubühne. Thomas Ostermeier möchte am liebsten alle seine Schauspieler in die Stücke des belgischen Choreografen mit der sozialtherapeutischen Vergangenheit schicken. Körpersprache ist bei Platel ein sehr präzises Instrument der sozialen Verortung, und schon deshalb ist er für das Experiment der Schaubühne, sich in Tanz und Theater neue Zugänge zur Erfahrung zu suchen, interessant. In seinem Stück „iets op Bach“, letztes Jahr zu Gast, gelang ihm zudem ein wunderbarer Brückenschlag zwischen den Verstörungen der Gegenwart und dem Aufschließen von Wünschen.

„Allemaal Indiaan“ (Jeder ist Indianer), angekündigt als Choreografie, überraschte dann doch als Theaterstück, dessen meist gebrüllten Sprachfetzen man in der Übertitelung folgen muss. Getanzt wird zwar viel, aber eben nur so, wie man in Kinderzimmern und Küchen das Spice Girl oder die Operdiva mimt, je nach Generation. Selten so viele Kinder auf einer Bühne wuseln sehen. Aufgebaut sind zwei Reihenhäuschen, durch deren große Fenster man wie in einer Puppenstube das Leben verfolgen kann. Rechts wohnt Tosca mit vier Kindern, zu denen Arno, der Indianer mit großen Federn und kleinem Verstand, und Elleke gehören, von der Nachbarschaft ob ihrer sexuellen Freizügigkeit verspottet.

Links wohnt Feuerwehrmann Frankie, ein liebevoller Vater dreier Kinder an und für sich, nur ein wenig genervt von seiner Schwester Mireille und ihren Beziehungsproblemen. Irgendwann brennt es in seinem Haus. Katastrophen aber ist er so gewohnt, dass er schon gar nicht mehr reagiert, wenn die kleine Joeri mit verbundenen Augen auf der Spitze einer Planke balanciert, die ihr Bruder aus dem Fenster geschoben hat. Die beiden sind groß in Selbstmordspielen.

Oft droht jemand vom Dach des einen Hauses zu stürzen, während heftiges Wedeln mit dem Duftspray im Klofenster des anderen die Aufmerksamkeit ablenkt. Zwei oder drei Wutausbrüche, Geständnisse oder Verzweiflungstaten laufen fast immer parallel. Kinder gehen verloren, Eltern stellen sich tot. Überfordert und so ratlos, dass er einem schon wieder Leid tut, greift Frankie zum allerletzten Mittel, väterliche Autorität wiederherzustellen: Er zersticht den Ball seiner Tochter. Das Schlimmste ist, dass man mitten in den Prügeleien zwischen Geschwistern oder Vater und Sohn schon wieder vergessen hat, was eigentlich der Anlass war. Die Ursachen der Konflikte sind so tief begraben, da kommt keiner mehr ran.

Früher, zu Zeiten von Fassbinder oder Kroetz, nannte man so etwas Milieustudie. Doch Arne Sierens, der Autor von „Allemaal Indiaan“, und Alain Platel haben soviel Daily Soap und zynische Überdrehung hineingegossen, dass dem Stück jede Entwicklungsmöglichkeit abhanden gekommen ist. Konflikte gibt es jede Menge, aggressive Entladungen alle paar Minuten, eine Geschichte entsteht nicht. So hält man sich zuletzt an dem bitterbösen Humor fest, der dem Reden über Anhänglichkeiten und Sehnsüchte als einzige Ebene zur Verfügung steht.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Allemaal Indiaan“: Sa., 20 Uhr; So., 18 Uhr, Schaubühne am Lehniner Platz