Häutung und Reproduktion

■ „Zeig mir Dein Fleisch!“ intelligent abstrahiert: Das Video-tanzstück „D.A.V.E.“ von Chris Haring und Klaus Obermaier

Gefängnis und Bühne grenzenloser Möglichkeiten – zwischen diesen beiden Polen bewegt sich das Videotanzstück D.A.V.E. (digital amplified video engine: digital verstärkter Video Motor) der beiden Wiener Künstler Chris Haring und Klaus Obermaier. Die Biomasse Mensch durchzogen von der Technik: Was spätestens in den gentechnischen Laboratorien am Tier makabre Wirklichkeit geworden ist, legt der Videokünstler und Komponist Obermaier auf seiner fantastischen Erkundundungstour am Körper virtuell und passgenau wie eine zweite Haut um Harings muskulöse Statur. Froschaugen und Elefantenohren wachsen da dem Choreografen und Tänzer, durchkreuzen fliehende Landschaften in rasender Kamerafahrt seinen Leib.

Traum und Trauma utopischer Entgrenzungen, in der Literatur und auf der Leinwand schon hundertfach erdacht und visualisiert – hier scheinen sie plötzlich noch einmal greifbar nah. Kurios sind die Verrenkungen, die das flexible Kraftpaket Haring da leibhaftig und hochkonzentriert im raffinierten Bühnenlicht vollführt. In dieser Performance fließt dabei kein Blut. Das Kampnagel-Reihenmotto „Zeig mir Dein Fleisch!“ ist in dem Stück vielmehr in Tanz und Bild intelligent abstrahiert, humorvoll, poetisch und dennoch unbehaglich interpretiert.

Die Präzision ist es, die ihre Begegnung von Tanz und Video so unvergleichlich macht. Sensibel ausgearbeitet sind die Übergänge zwischen der Materialität des realen Körpers und der Flüchtigkeit des virtuellen Abbildes, fügen sich dramaturgisch schlüssig zu einem verblüffenden Spiel mit der Präsenz. Obermaiers rhythmisch verschachtelte Klanggebilde legen darunter einen Teppich, der Bodenhaftung garantiert.

Dann zieht und zerrt Haring an seiner Haut, die sich doch nicht öffnen lassen will. Die virtuelle Hülle schiebt er dagegen ganz mühelos beiseite; der Blick ins Innere fällt in ein schwarzes Nichts. Häutung und Reproduktion sind die Themen, Selbstbilder steigen wie geklonte Wesen reihenweise aus dem dunklen Loch heraus. Der Mensch hat seinen Körper zur Invasion freigegeben, hat sich schutzlos sich selbst ausgeliefert. Anfangs krümmt Haring sich auf dem Boden wie ein Embryo im Mutterleib. Am Schluss hat sich der Mann den Körper einer schwangeren Frau anverwandelt.

Chris Haring und Klaus Obermaier arbeiten bereits an einem neuen Stück. In Vivisection erforschen sie mit vier Tänzern das Phänomen Bewegung – unter Verwendung der gleichen Videotechnik, die sie in ihrer weltweit erfolgreich präsentierten Arbeit D.A.V.E. benutzten. Im Sommer soll bei der internationalen Medienschau Ars Electronica in Linz die Premiere stattfinden.

Irmela Kästner