Deutschland, setzen, sechs!

Mit dem Euro kommt die erste blödheitsbedingte Rezession, weil man hierzulande gar nicht kopfrechnen kann, Angst um sein vieles Geld hat und am liebsten nur noch Eigenurin trinken will: Eine Schauergeschichte aus dem Dienstleistungsgewerbe

von ULI HANNEMANN

Wenn früher die Preise erhöht wurden, pflegte man sich dafür zu rechtfertigen: „Liebe Kunden“, hieß es dann , „weil Papier, Strom, Butter teurer geworden sind, der Landvogt uns nur das zehnte Huhn lässt, die Dänen vor der Küste liegen und drohen, unser Land zu verheeren, der Drache sonst die Tochter des Königs frisst … haben wir uns blutenden Herzens zu einer Preiserhöhung durchgerungen. Die Firmenfahne hängt auf Halbmast, und die Geschäftsführung hat die ganze Nacht geweint, aber es geht nicht anders – außerdem hatten wir nun schon zwei Wochen lang dieselben Preise. Wir hoffen, Sie bleiben uns treu: Ihre ergebene Scheißfirma.“ Mit der Einführung des Euro glauben dagegen freche Abzocker, auf jegliche Erklärung verzichten zu können. Geschäftsgebaren, für die der Händler vormals zu Recht zwei Tage in einen Käfig gesteckt und darin alle halbe Stunde in den Stadtgraben getaucht wurde, bleiben ungeahndet: Kriminelle Banden wie der „Sporttreff Buschkrug“ oder die „Ankerklause“ halten uns für blöd, und das Schlimmste ist: Sie haben Recht.

„Was ist eins plus eins, Deutschland?“ – „Nüscht!“ – „Falsch, Deutschland – setzen, vier!“ Anstatt nachzurechnen, die Wucherer mit Konsumverzicht zu bestrafen und dafür die wenigen Abrunder zu belohnen, verkriechst du, Deutschland, dich misstrauisch in dein Schneckenhaus: „Ich kauf jetzt gar nichts mehr“, sagst du, „man weiß ja nie!“

Dass du nicht rechnen kannst, belegt ja schon die Pisa-Studie. Während der Grieche das neue Geld munter mit 372 multipliziert, derweil der Österreicher durch 13 geheim rät, scheiterst du, Deutschland, an der einfachsten aller Aufgaben: „Was ist zwei mal eins, Deutschland?“ – „Betrug?“ – „Falsch, Deutschland – setzen, fünf!“

Also Konsumverzicht: Schöne Sache eigentlich, doch schade, schade – nicht aus der hehren Absicht heraus, die Weltbank zu vernichten, sondern allein aus reiner Dummheit. Wegen deiner Dummheit, Deutschland, treibst du mich in den Ruin. Ich habe den Grundpreis abgerundet und sogar den Schmarotzertarif, doch du übst Verzicht. Du sitzt bei Kerzenlicht zu Hause auf deinem vergrabenen Geld im Keller und ernährst dich von Konserven und Eigenurin – so wird die Pisa-Studie zur Pisser-Studie.

Draußen warte ich vergeblich mit meiner Taxe auf dich. Noch nie machte die Bezeichnung „Bettelleuchte“ für die Fackel mehr Sinn. Wenn ich nicht zu geschwächt wäre, würde ich um Gnade winseln. Mein Magen knurrt: Seit Tagen ernähre ich mich nur von trockenen Brötchen und Gras. „Was ist ein mal zwei, Deutschland?“ – „Betrug!“ – „Wieder falsch, Deutschland – das hatten wir doch vorher schon.“ – „Nein, da hatten wir zwei mal eins!“ – „Ach, Deutschland – setzen, sechs!“ Aber vielleicht kannst du gar nichts dafür, Deutschland? So leidet eine befreundete Kollegin unter der Rechenschwäche Dyskalkulie: Wenn ich frage, „Lieselotte (Name geändert) – was ist eins und eins?“, antwortet Lieselotte, übrigens ehrlicher als du, Deutschland: „Weiß nicht.“ Manchmal brachte sie von der Taxischicht weniger Geld nach Hause, als sie vorher mitgenommen hatte: Dann hat sie mal wieder jedem falsch rausgegeben.

Um nicht mehr auf das Mitleid und die Ehrlichkeit ihrer Fahrgäste angewiesen zu sein, fährt sie heute mit Taschenrechner. Also, Deutschland – vielleicht bist du ja auch krank! Dunkel und verlassen die Straßen, leer die Kneipen – die ganze Stadt versinkt in Agonie. Es herrscht Rezession, die erste blödheitsbedingte Rezession aller Zeiten. Ich bin eingeborener Bewohner des dümmsten Landes der Welt – ich schäme mich so! Dann doch noch ein Fahrgast, ein Börsen-Yuppie – die müssen ja rechnen können.

Er will nicht weit. Erzählt dabei von einem Freund, wie der gestern ganz allein im riesigen Café Einstein saß: Die einzige Gesellschaft, die er hatte, war eine ausgemergelte Ratte auf der Suche nach Krümeln. Eine Weile saßen sie sich so von Angesicht zu Angesicht gegenüber, das Nagetier und der einsame Geldmensch, bis die Ratte plötzlich tot umfiel: Es gab keine Krümel. Die Fahrt kostet 6,90. Das sei ja jetzt schwierig mit dem Trinkgeld, rechnest du, Yuppie-Deutschland, da bekäme ich sicherlich oft nicht viel, und rundest um zehn Krümel auf. „Nein, da bekomme ich nicht viel“, bestätige ich. „Letzte Frage, Deutschland – und nimm gefälligst den Finger aus der Nase …“ – „Jawoll!“ – „Also, letzte Frage: Was ist zwei?“ – „Ääh, einskommaneunfünffünfnulldrei?“ – „Im Ansatz nicht schlecht – aber viel zu kompliziert: Setzen, Deutschland – durchgefallen!“