Kunst am Bau auf Türkisch

Die Installation „Am Haus“ von Ayse Erkmen zielt auf eine Erzähltradition ab, die in der türkischen Kultur langsam verloren geht Die Künstlerin legt den Zeitpunkt der Beendigung ihres Werkes zurück an den Ausgangspunkt, an dem ihre Arbeit begann

von KIRSTEN WINDERLICH

Was macht eine Installation in türkischer Sprache an einem typischen Berliner Eckgebäude? Seit acht Jahren sind die fremdartig klingenden Wortketten aus schwarzen Buchstaben an einer Ecke am Heinrichplatz in Kreuzberg zu sehen. Wie ein Gewebe bedeckt die Schrift das ockergelbfarbene Haus.

Der Text ist nach einem durchgängigen Ordnungsprinzip auf der Fassade verteilt. Zusammen mit den Fenstern bildet er eine Textur, die von weitem als integraler Bestandteil der Architektur wahrgenommen werden kann. Mit jedem Schritt Richtung Haus verschwindet das Schriftgewebe wie durch einen Zoom. Die Textur verblasst. Wörter drängen sich auf: mis … müsüz. Was heißt mis? Was bedeutet müsüz? Wie kann müsmüssünüz übersetzt werden? „Die einzelnen Silben sind für sich genommen nicht übersetzbar“, so die Künstlerin Ayse Erkmen. Sie erhalten nur im Zusammenhang mit einem Tätigkeitswort eine Bedeutung. Die Suffixe sind Beugeformen der Vergangenheit und verweisen auf eine Erzähltradition, für die es in den abendländischen Sprachen kein Äquivalent gibt. Auch in der türkischen Kultur findet diese Erzähltradition immer weniger Anwendung und geht langsam verloren.

Wenn eine Silbe an ein Verb angehängt wird, vermittelt sie, dass ein anderer als der gegenwärtige Sprecher gesprochen hat. Das heißt, das, was gerade erzählt wird, stammt nicht aus dem eigenen Erfahrungsschatz. Es wurde gehört und weitergegeben. Der Erzähler war nicht dabei. Begebenheiten werden erzählt, das Gehörte wird weitergegeben, sodass nicht mehr auszumachen ist, wo die Realität aufhört und die Fiktion beginnt.

Ein zentraler Aspekt bei der Installation von Ayse Erkmen ist, dass sie an einer Schnittstelle zwischen türkischer und deutscher Kultur und Identität angesiedelt ist. Die Übersetzung von der türkischen in die deutsche Sprache und umgekehrt steht jedoch nicht, wie vielleicht angenommen, im Mittelpunkt dieser Arbeit. Vielmehr liegt die Besonderheit der Installation in ihrer Form und Wirkungsweise als Vexierbild. So verwandelt sich, abhängig von der Positionierung des Betrachters, Textur in Text und Text in Textur oder Bild in Schrift und Schrift in Bild. Dieses Wechselspiel ermöglicht eine vielschichtige Erfahrung des Ortes, eines Ortes, der nicht ausschließlich deutsch und nicht ausschließlich türkisch ist.

Ayse Erkmen markiert diesen Ort, insbesondere um seine unterschiedlichen Bewohner sprechen zu lassen: seine Bewohner mit ihrer Tradition des Geschichtenerzählens, die sie nicht mehr leben, und seine Bewohner und Passanten, die Raum erhalten, sich Fremdem zu nähern.

Bewusst war die Installation von Ayse Erkmen, die 1994 im Rahmen einer DAAD-Ausstellung gezeigt wurde, auf Zeit angelegt, „weil ich glaube, dass jede Arbeit eine Lebenszeit hat und die ihr innewohnende Energie nicht unerschöpflich ist“. Nichtsdestotrotz setzten sich die Bewohner für einen längeren Verbleib der Installation ein.

Trotz der Identifizierung der Menschen mit der Arbeit steht für die Künstlerin fest, dass das Kunstwerk spätestens bei der nächsten Renovierung von der Fassade genommen wird. Damit legt Ayse Erkmen den Zeitpunkt der Beendigung ihres Werkes zurück in die Bedingungen des Ortes, der Ausgangspunkt für die Arbeit „Am Haus“ war.