Die Gnade der späten Entwicklung

Hohes Wachstum, geringe Arbeitslosenquote – warum die bayerische Wirtschaftspolitik dennoch nicht als Modell für Deutschland taugt

BERLIN taz ■ Die Ökonomen schütteln nur die Köpfe. Der Freistaat Bayern ein Vorbild für Deutschland? Ministerpräsident Edmund Stoiber der Mann, der das auf den ersten Blick so erfolgreiche Modell auf Bundesebene übertragen kann? „So naiv“ sei der Kanzlerkandidat der Union nicht, sagt Unternehmensberater Roland Berger im Spiegel. Und auch Stoiber selbst weiß sehr genau, womit er wuchern kann und womit nicht: anständige Wachstumszahlen, eine Arbeitslosenquote weit unter Bundesdurchschnitt. Und eine in Clustern konzentrierte Wirtschaft, die international orientiert ist. Aber er hat keine Schablone entworfen, nach der die anderen Bundesländer oder gar Deutschland insgesamt wirtschaftspolitisch auf Vordermann gebracht werden könnte. Dazu sind die Aufgaben viel zu unterschiedlich.

Dass es in Bayern so vergleichsweise gut kommen konnte, ist nicht nur politischen Weichenstellungen, sondern vor allem günstigen Umständen zu verdanken. Klaus Zimmermann, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, nennt es „die Chance der späten Entwicklung“. Denn für Bayern stellte sich nach dem Zweiten Weltkrieg als Glücksfall heraus, dass der rohstoffarme Freistaat ein beinahe lupenreiner Agrarstaat mit wenigen industriellen Enklaven war. „Das Land musste in großen Teilen nie einen Strukturwandel durchmachen“, so Ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Unternehmen siedelten von Sachsen nach Bayern um, die Zonenrandförderung und Gelder aus dem Länderfinanzausgleich, die bis 1992, als der Freistaat vom Nehmer- zum Geberland wurde, auch nach Bayern flossen, taten ein Übriges.

Schon vor Stoiber bauten bayerische Ministerpräsidenten die Infrastruktur aus und förderten so genannte Zukunftstechnologien. Dabei erwies sich der Umzug von Siemens und der Allianz, die ihre Zentralen nach 1945 von Berlin nach München verlagert hatten, als ausgesprochen hilfreich. Vor allem Siemens zog weitere Computerfirmen auch aus dem Ausland an. Franz-Josef Strauß baute die Atomindustrie auf, Stoiber förderte weiter Informations- und Kommunikationstechnologien, Life Sciences oder Umwelttechnik. Ein bayerischer Sonderweg ist das aber nicht. In Nordrhein-Westfalen beispielsweise strebt Ministerpräsident Wolfgang Clement (SPD) für das Ruhrgebiet eine Führungsrolle nach ähnlichem Muster an, hat in dem alten Kohle- und Stahlrevier aber mit dem Strukturwandel zu kämpfen. Ein Problem, mit dem Stoiber in den wenigen industriellen Enklaven in Bayern ebenfalls nicht klarkommt.

Und in Sachsen versuchte sich Kurt Biedenkopf (CDU) nach der Wende schon mäßig erfolgreich an einer ähnlichen Clusterpolitik. Sein Problem: In den 90er-Jahren waren die Märkte längst verteilt. Unternehmen, die sich ansiedelten, waren oft nur Filialen westdeutscher Konzerne, die die Gewinne lieber an die Muttergesellschaften transferierten. Trotzdem halten Experten die Schwerpunktsetzung für eine gute Idee: „Sich eine Richtung zu geben, ist moderne Politik“, so Godehard Neumann vom Wirtschaftsforum Nürnberg. „Auch wenn es das Risiko gibt, dass es schief geht.“

Nach dem Ende des Geldzuflusses aus dem Länderfinanzausgleich im Jahr 1993 musste auch Bayern neue Finanzquellen auftun und begann mit dem Verkauf von Staatsunternehmen. Diese Möglichkeiten gebe es auf Bundesebene nicht, sagt der bayerische DGB-Chef Fritz Schösser. Statt mit Milliarden aus dem Verkauf von Staatseigentum müsse der Kanzler mit Milliarden an Schulden jonglieren. „Stoiber wäre mit einem nach wie vor völlig zusammengebrochenen Arbeits- und Wirtschaftsmarkt in den neuen Bundesländern konfrontiert und hätte nicht mehr die Mittel, um Initialzündungen zu geben.“

BEATE WILLMS