Krieg gegen die Vereinten Nationen

Die Existenzkrise der UN ist für die USA nachrangig. Frankreich und Russland habensich als zuverlässig herausgestellt. Und: Wer die UN stärken will, muss die EU fördern

Analysen, die eindeutig schienen, wurden von den Ereignissen widerlegt

US-Präsident Bush ist das Risiko eingegangen, mit dem Krieg die Institution der Vereinten Nationen nachhaltig zu beschädigen. Es wird nicht klar, ob er die internationalen Konsequenzen überhaupt sehen will – wahrscheinlich jedoch ist seine Haltung gegenüber den UN knallhart kalkuliert: Die unbotmäßige Weltorganisation wird mit dem Krieg gegen den Irak in eine Existenzkrise getrieben.

In den letzten Jahren war die Weltorganisation vielen Zerreißproben ausgesetzt. Letztendlich haben die Vereinten Nationen alle bestehen können, obwohl die einflussreichste Macht im UN-System, die US-Regierung, sich wiederholt entschlossen gezeigt hat, die Gremien und Beschlüsse der internationalen Gemeinschaft zu missachten oder zu blockieren. Mit der Weigerung, das Kioto-Protokoll zu unterschreiben und den Gerichtshof in Den Haag anzuerkennen, zeigte sich schon vor dem Irakkonflikt etwas Grundsätzliches: Die USA akzeptieren die von den Vereinten Nationen auferlegten Verpflichtungen nicht, wenn ihre Interessen berührt werden.

Sicherlich, die Vereinten Nationen haben oft genug erfolglos agiert. In Afrika zum Beispiel, als in Ruanda gemordet wurde. Im Bosnienkrieg brachten die gegensätzlichen Interessen der Vetomächte im Weltsicherheitsrat einen Kompromiss hervor, der die UN-Truppen dazu zwang, Zuschauer des Massenmords zu werden. Damals war die Autorität der UN so weit gesunken, dass die USA und die anderen Nato-Länder sie aus dem Entscheidungsprozess ausschließen konnten. Um ihr militärisches Eingreifen im Kosovo gegen den Widerstand Russlands und Chinas durchzusetzen, traf die Nato die Entscheidung am Weltsicherheitsrat vorbei.

Aber selbst daran sind die Vereinten Nationen nicht zerbrochen. In der Krise nämlich kam die bereits etwas ältere Diskussion um eine Reform der UN und ihre Entscheidungsstrukturen in Fahrt. Sie blieb zwar folgenlos, weil die Vetomächte im Weltsicherheitsrat – darin sind sie sich alle einig – nicht bereit sind, ihre Macht und ihren Einfluss aufzugeben. Doch die Notwendigkeit, die UN zu reformieren, ist seither allgemein anerkannt. Immerhin brachten nach dem Kosovokrieg einige Regierungen die UN wieder ins Spiel. Vor allem der deutsche Außenminister Fischer drang darauf, eine UN-Mission im Kosovo zu etablieren. Mit dem ersten Protektorat in der Geschichte der UN sollte die Rolle der Gemeinschaft gestärkt werden. Das gelang.

Außerhalb der USA ist inzwischen die Ansicht wieder weit verbreitet, dass die Welt unsicherer wäre, wenn es die UN nicht gäbe – trotz ihrer Schwächen. Die UN sind in der Tat die einzige Organisation auf der Welt, die eine für alle Staaten verbindliche Konfliktregelung ermöglicht. Schon deswegen sind sie unersetzlich. An diesem Punkt sind die Differenzen zwischen den USA und anderen Ländern, auch Deutschland, schon in den letzten Jahren sichtbar geworden. Und so ist es nicht verwunderlich, dass Schröder und Fischer ihre ablehnende Position zu einem Irakkrieg ziemlich früh formulierten.

Zwar anerkennen jetzt auch einige Kritiker, die der Bundesregierung die US-Überflugrechte und andere Hilfsleistungen vorwerfen, dass die Wahlkampfaussage des Kanzlers bezüglich des Irak nicht nur Populismus oder ein Wahlkampftrick war, sondern konsequent beibehalten wurde. Dabei schwingt aber immer noch der Vorwurf mit, dass Schröder und Fischer seinerzeit für den Krieg um das Kosovo eingetreten sind. Vom Standpunkt der reinen Lehre des Pazifismus aus seien sie unsichere Kantonisten, denen man nicht trauen könne.

Unter den Tisch fällt bei diesem Vorwurf, dass die Clinton-Administration, die Nato und die deutsche Regierung damals ganz andere Beweggründe für eine Intervention hatten, als dies heute unter Bush der Fall ist. Anders als heute stand damals die Sorge über einen neuen Massenmord im Vordergrund. Im Kosovo sollten die Lehren aus Bosnien gezogen werden. Die Intervention im Kosovo sollte zudem einen Krieg beenden und die demokratische Entwicklung in Südosteuropa befördern.

Das grundsätzliche Misstrauen, gegen Schröder noch mehr als gegen Fischer, weist auf eine in der deutschen Linken weit verbreitete Denkstruktur. Sie tut sich schwer, zu akzeptieren, dass zumindest einige Politiker nicht nur einfach Charaktermasken sind. Sie hängen ihr Fähnchen nicht nur in den Wind, sondern versuchen, in einem vorgegebenen innen- und außenpolitischen Rahmen ihre eigenständigen Positionen durchzusetzen.

Zudem kann sich in bestimmten politischen Konstellationen eine Dynamik entfalten, die einer Außenseiterposition plötzlich Schub verleiht. Es gab viele Schlaumeier, die der französischen Position Wankelmütigkeit unterstellten, die behaupteten, da werde nur mit dem Veto im Weltsicherheitsrat gespielt, um die eigene Bedeutung zu erhöhen – letztlich werde Chirac aber einbrechen. Gleiches gelte für Russland: Putin werde es wegen Tschetschenien nicht wagen, den USA zu widersprechen. Hat er aber. Analysen, die ursprünglich einleuchtend schienen, wurden von den Ereignissen überholt. Bei manchen blieb die Analyse dennoch unverändert. Dabei bedeutete Schröders anhaltende Verweigerung nicht nur innenpolitisch, sondern europa-, ja sogar weltweit eine Ermunterung und Verstärkung der Proteste.

Die Irakdebatte zeigt: Politiker sind nicht einfach nur opportunistische Charaktermasken

Weiterhin ignorierte die kritische Diskussion in Deutschland, dass hinter dem Schulterschluss von Chirac und Schröder auch eine Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses steht. Wenn schon seit zwei Jahren die Botschafter beider Seiten sich in allen Ländern dieser Welt in besonderer Weise abstimmen, sind die Weichen für eine gemeinsame Außenpolitik gestellt. Der Gedanke, als Keimzelle von EU-Botschaften zu wirken, verweist sogar auf den Versuch, endlich eine europäische Außenpolitik zu begründen.

Natürlich wird ein solches Projekt angesichts der politischen Widersprüche zwischen den Staaten Europas lange Zeit brauchen, bis seine Ergebnisse „belastbar“ werden. Zu den weltpolitischen Weichenstellungen dieser Tage gehört zudem die Entwicklung eigenständiger Militärstrukturen auf dem alten Kontinent. Dass jetzt in Mazedonien eine „EU-Armee“ mit Hauptquartier in Brüssel die Nato-Truppe abgelöst hat, dass in Bosnien EU-Polizisten der UN nachfolgen, ist ein verletzlicher Keimling und sieht im Vergleich zur Militärmacht der USA lächerlich aus. Der Konflikt mit den USA in der Irakfrage wird die Diskussion jedoch unweigerlich auf diesen Keimling lenken. Die Aufgabe, die europäischen Strukturen in der Außen- und Verteidigungspolitik ernsthaft zu entwickeln, wird in Zukunft auf jeden Fall Priorität erhalten müssen. Ein stärkeres Europa wäre auch gut für die UN.

ERICH RATHFELDER