Verkrampft-vergebliches Verlangen

Alltäglich fundamentalistischen Wahnsinn diagnostiziert: Michael Thalheimers „Woyzeck“ am Hamburger Thalia Theater

Der Skandal blieb aus. Viele Besucher der Woyzeck-Premiere im Thalia Theater hatten die Kritiken zur Salzburger Premiere der Koproduktion studiert und wussten, was auf sie zukam. Mit seiner Inszenierung von Georg Büchners legendärem Fragment scheint Michael Thalheimer der Gefahr entkommen, im ewigen Selbstzitat zu erstarren.

Die Stahlwand hebt sich. Ein metallener Raum. Eine Art riesige Blechdose hat sich Thalheimers Bühnenbildner Olaf Altmann ausgedacht. Hierin spielt sich die Welt des Soldaten Woyzeck ab. Da steht er im weißen Hemd, das er sich mit Schwung aufreißen wird, und schwarzer Hose. Nicht wie ein armes Sozialopfer. Eher wie ein Herrscher. Peter Moltzen, neu im Thalia Ensemble, stattet ihn mit kalter Energie und profundem Stolz aus. Kein Laut kommt ihm zunächst über die Lippen. Dafür darf Markus Graf als Ansager die Schnulze „Sag mir quando, sag mir wann...“ ins Mikrofon säuseln. Woyzeck schnellt herum und wirft ein blutiges Etwas an die Wand. Da ist klar, er wird nicht ruhen, bevor er in dieser kaputten Welt das Einzige findet, das ihm noch erstrebenswert scheint: „Still. Alles Still.“

Aus den Seitenwänden schält sich das übrige Bühnenpersonal. Peter Kurth als Tambourmajor – eine dumpfe Masse Mann. Stolz schiebt er die Fettfalten seines bloßen Bauches nach vorne. Soviel Männlichkeit imponiert Woyzecks Freundin Marie. Hier ist sie kinderlos, aber trotzdem verzweifelt. Eine ewig Nörgelnde auf der Suche nach Lust und Leben. Fritzi Haberlandt, im bodenlangen Kleid von Kostümbildnerin Michaela Barth, steht der Trotz maskengleich festgewachsen im Gesicht. Die Liebesgesten bei Thalheimer sind stets Ausdruck verkrampften vergeblichen Verlangens. Auch wenn Woyzeck sich seiner Marie nähern will, bleiben beide nur irritiert voreinander stehen. Dieser Woyzeck ist weder von Wahnvorstellungen noch Verhältnissen gequält. Er will einfach mit dieser Gesellschaft nichts zu tun haben.

Die Historie des Stücks, den Kampf des aufstrebenden Bürgertums gegen die überkommene Aristokratie, karikiert in den Figuren von Hauptmann und Arzt, interessiert Thalheimer wie üblich nicht. Er findet auch in diesem Stück den modernen Menschen. Den alltäglichen fundamentalistischen Wahnsinn. In all seinem Schrecken und seiner Verlorenheit.

Gleichmütig ergibt sich Woyzeck in die wissenschaftlichen Versuche, die der Doktor mit ihm treibt. Peter Jordan ist der einzige, der hier schnörkellos und in normaler Lautstärke reden darf. Der hyperventilierende Hauptmann bringt beim rotgesichtigen Norman Hacker keinen einzigen verständlichen Satz heraus. Der Betrug Maries mit dem Tambourmajor, auf dessen Spur der Hauptmann Woyzeck bei Büchner lockt und weswegen er erst Marie tötet und danach ins Wasser geht, wird zum Nebensatz. Woyzeck schreitet mit kalter Überzeugung zur blutigen Tat. Mit glattem Halsschnitt entledigt sich der Soldat des Hauptmanns. „Die Hölle is kalt, wollen wir wetten. – Unmöglich! Mensch! Mensch! Unmöglich!“ Der Arzt darf ihm noch kurz den Puls fühlen. Dann ist er selber dran. Der Tambourmajor erledigt sich selbst. In Woyzecks Gedankenwelt haben auch zarte Gefühle zu seinem Kumpel Andres (Katharina Schmalenberg) längst keinen Platz. Schnell würgt er den Kameraden zu Tode. Und Nachbarin Käthe (Judith Rosmair) muss noch mal auf die Bühne, um sich ihren Genickbruch abzuholen.

Für all das brauchen Woyzeck und Regisseur Thalheimer ganze 75 Minuten. Bei einem ohnehin knappen Fragment gibt es nicht mehr viel zu skelettieren. Sicher, die vielen blutigen Szenen berühren nicht. Genauso wenig wie die abwesenden Gefühle. Die Multimedia-Vision von Alexander du Prel und die Musik von Bert Wrede tun ein Übriges, das Geschehen zu verfremden. Und doch zeigt sich gerade hier auf wunderbare Weise der fragmentarische und moderne Charakter Büchners. CAROLINE MANSFELD

Vorstellungen: 14. + 16. 10., 20 Uhr, Thalia Theater, Hamburg