bernhard pötter über Kinder
: Terroristin der Ökonomie

Attac muss umdenken: Natürlich ist die Welt eine Ware. Seit meine Tochter einen Kaufmannsladen hat

„Papa? Schokoeis?“

Wie viele hatte ich schon? Sechs? Aber gut. Hmm, lecker.

„Papa? Schokoeis?“

Na gut, Tina. Noch eins, dann ist Schluss.

„Papa? Schokoeis?“

Nein, vielen Dank. Ich hatte jetzt achtmal Eis. Ich möchte nicht mehr.

„Papa? Schokoeis?“

Nein, danke.

„Papa, Schokoeis?“

Nei-hen!

„Papa!! Schokoeis!!“

Meine Tochter steht hinter dem Tresen ihres Kaufmannsladens. Tränen stürzen aus ihren Augen. Achtmal habe ich von ihr Eis gekauft, achtmal ging es gut. Jetzt ist der Markt gesättigt. Die Katastrophe ist da.

„Papa-ha!“, schluchzt sie. „Schokoeis!“

Wir sind ja selbst schuld. Warum haben wir im Urlaub auf dem Weg zum Strand aus jeder Laterne (aber nur als Spiel!) eine Verkaufsstelle für eine andere Eissorte gemacht („Komm, weiter, da hinten gibt es Gummibär-Eis!“). Und warum haben wir unserer Tochter zum zweiten Geburtstag diesen Kaufmannsladen gebaut, mit Kasse und Waage, Spielobst und -gemüse, Nudeln und Eistüten aus Holz. Jetzt verkauft Tina ihre Ware wie eine erfahrene Fischfrau vom Wochenmarkt. Mit Geschrei und Drohungen. Mal mit Drückermethoden, dann wieder mit devotem Service. Sie hält mir die Tüten auf. Sie packt meine Einkäufe ein. Sie gibt mir sogar Geld, damit ich einkaufe. Sie ist so verzweifelt auf der Jagd nach Konsumenten, dass sie auch die Steuerreform vorziehen würde.

Der Kaufmannsladen meiner Tochter ist eine dattelpalmengesäumte Oase in der Servicewüste Deutschland. Hier drinnen bin ich König Kunde. Dort draußen bin ich Karl Arsch. Die Fahrscheinautomaten der U-Bahn nehmen mein Geld nicht an, damit ich als Schwarzfahrer 40 Euro zahlen muss. Ich vergeude meine Jugend auf den Fluren der Meldebehörde. Ich wundere mich, warum die Kassenfrauen im Schwimmbad hinter schusssicherem Panzerglas sitzen. Und ist es woanders besser? Im Serviceland Nummer eins, den USA, sind alle zwar immer mächtig freundlich. Aber wenn das Auto aus der Werkstatt kommt, ist es verkorkster als vorher. Haben Sie mal beim US Postal Service ein Buchpaket zum speziellen Buchpreis aufgegeben? Haben Sie mal versucht, in Indien ein Zugticket zu kaufen? Oder ein Visum für Südafrika zu bekommen? Sehen Sie.

Ernst genommen als mündiger Verbraucher fühle ich mich nur von meiner Tochter. Sie hat diesen Dienstleistungswillen. Sie weiß, wie wichtig wir Verbraucher sind. Mehr Nachfrage heißt mehr Wirtschaftswachstum heißt mehr Arbeitsplätze heißt, allen geht es besser. Das klingt so gut, dass man alle Probleme vergisst, die das Wirtschaftswachstum nebenbei so schafft.

Was die Kaufkraft der Massen und ihre Pflicht zum Konsum angeht, ist meine Tochter konsequente Anhängerin der Nachfragetheorie von John Maynard Keynes. Im Kinderzimmer herrscht Kaufzwang wie bei Ikea. Besucher werden an der Tür abgefangen und an der Hand vor den Laden gezogen. Dort müssen sie ihre Brieftaschen leeren und ihre Tragetaschen füllen. Der Konsumterror erstreckt sich auf alles: Bücher, Teddys, Puppen, Playmobil-Ritter, Autos, die Reste vom Frühstück, das Weihnachtsgeschenk von Oma, die Unterhosen des Bruders. Alles verschwindet auf und unter dem Ladentisch, alles ist verkäuflich, alles hat einen Preis. Tinas wichtigste Aufforderung an uns heißt: „Kaufen!“ In einem Befehlston wie Großspekulant George Soros, als er das europäische Währungssystem in die Krise stürzte. Konsumverzicht kommt bei unserer Tochter nicht in die Tüte. Die Welt ist keine Ware? Hier schon.

Noch mehr als verkaufen liebt Tina nur noch eines: Kaufen. „Einkaufen gehen“ ist seit Wochen Nummer eins der Kinderzimmer-Charts. Mit Tasche, Beutel oder Rucksack geht sie dann auf Fischzug durch Kinderzimmer, Küche und Wohnzimmer und sackt ein, was nicht niet- und nagelfest ist.

Unheimlich wurde ihr dieser Terror der Ökonomie nur einmal. Letzte Woche standen wir bei Reichelt an der Kasse, gleich neben den Tiefkühlregalen. Da hob ich sie in den Einkaufswagen, schob sie zur Kassiererin und fragte: „Und was kostet so ein kleines Mädchen?“ Da war der entfesselte Kapitalismus selbst für Tina einen Schritt zu weit gegangen. Entsetzt sprang sie mit Tränen in den Augen auf und zeigte neben mich: „Nee, Papa, nicht Tina kaufen! Schokoeis!“

Fragen zur Nachfragetheorie? kolumne@taz.de