Vom Katholizismus zum Ästhetizismus: Lars von Triers „Dogville“
: Das bisschen Seelenheil

Er trägt den all-amerikanischen Namen Thomas Edison Jr. und flaniert durch die all-amerikanische Kleinstadt Dogville. Irgendwann will er ein großer Schriftsteller sein. Noch fehlen ihm die Worte, noch verfertigt er keine Literatur, sondern Erbauungsschriften für die ärmliche Gemeinde. Deren Mitglieder erkennen darin wenig Sinn. Schließlich muss jeder in Dogville hart arbeiten ums tägliche Brot und das bisschen Seelenheil besorgt der Gottesdienst. Über alle weiteren Bedürfnisse ist zu schweigen. Dogville kennt keine moralischen Konflikte, weil es für Sünden keine Zeit hat. Bis zu dem Tag, an dem eine schöne Unbekannte hier Zuflucht sucht vor dunklen Herren in dunklen Autos.

Auf Edisons Betreiben darf Grace sich in Dogville verstecken. Zwei Wochen zur Probe. An der Fremden soll sich der Großmut der Gemeinde bewähren. Grace ihrerseits will sich integrieren. Sie ist fleißig und hat für jeden ein gutes Wort. Anfängliches Misstrauen weicht höflicher Anerkennung, bisweilen echter Zuneigung. Dogville munkelt, sie würde mit Thomas Edison Jr. Händchen halten. Dann tauchen Fahndungsplakate auf. Auf Grace ist ein Kopfgeld ausgeschrieben. Dogville beschließt, ihr weiterhin Gastrecht zu gewähren, aber lässt sich das teuer bezahlen: Sie wird Arbeitssklavin. Ein Kind beginnt schließlich die offene Aggression, an deren Ende Grace an ein Wagenrad gekettet den sexuellen Bedürfnissen aller Männer in Dogville Genüge tun muss. Der Moralist Edison wird ihr ärgster Feind.

Der Moralist Lars von Trier erzählt nach Dancer in the Dark erneut vom Martyrium einer Fremden, an deren Aufopferungsgabe die verdrängte Gier und Brutalität einer Gemeinschaft sich entzündet. Er erzählt in der augenscheinlich reduziertesten Form: Die drei Stunden Film finden statt in einem fast leeren Raum. Dogville ist in Monopolylinien auf den Boden gepinselt, die Ausstattung besteht aus wenigen Sperrmüllstücken, die Dramaturgie wird von einem Off-Erzähler kapitelweise vorweggenommen, die Lichtsetzung erinnert an Provinzoper, die Kamera läuft geschultert immer den Darstellern nebenher, als wolle sie mitspielen.

Und was hier gespielt wird! Unter dem Plot lässt von Trier eine Unzahl Fragen mitlaufen: nach der Unmoral der Kunst, nach der Geschichte und den Bedingungen des Kinos, nach dem eigenen Tun. Letzteres bringt er, durch eine Storywende, die hier nicht verraten sei, in ganz neue Bahnen: Vom Katholizismus zum fröhlichen Ästhetizismus. Unbedingt ansehen.

Urs Richter

Freitag, 20 Uhr, Preview, Zeise Kino, der Film startet am 23.10.