DIE TÜRKEI BESCHLIESST DEN IRAK-EINSATZ – ENTGEGEN IHREN INTERESSEN
: Pragmatisch in den Albtraum

Nach 89 Jahren zurück ins osmanische Imperium. Die Schlagzeile der auflagenstärksten Zeitung Hürriyet spricht Bände und zeigt zugleich, welche Dimension die Entscheidung hat, türkische Soldaten in den Irak zu schicken. Die Opposition spricht zu Recht von einem Bruch mit der bisherigen Außenpolitik, und vielen Abgeordneten der regierenden AKP ist höchst unwohl bei dem Gedanken, demnächst den Tod türkischer Soldaten kommentieren zu müssen.

Ministerpräsident Erdogan und sein Außenminister Gül haben eine hochriskante Entscheidung getroffen. So wie die immer wieder veränderten Gründe der Bush-Administration für einen Krieg gegen den Irak, so reicht jetzt die Palette der Begründungen in Ankara von humanitären Erwägungen über Bekämpfung des Chaos im Nachbarland bis hin zur Wahrung eigener nationaler Interessen bei der künftigen Gestaltung des Irak.

Die Vielfalt der Begründungen macht deutlich, dass es der Regierung in Ankara an einer klaren Strategie fehlt. Die Einmischung im Irak auch ohne ein UN-Mandat wird ihr außerhalb der Bush-Regierung keine Freunde bringen. Nicht zuletzt wird die Entscheidung den Konflikt mit der eigenen kurdischen Minderheit im Land eskalieren lassen. Und das Militär, dessen Einfluss gerade erst zurückgedrängt wurde, wird erneut die Chance erhalten, sich in den Vordergrund zu spielen.

Es bleibt ein Geheimnis des engsten Zirkels um Erdogan, warum er sich für den Einsatz im Irak entschieden hat. Jetzt, nach der Zustimmung im Parlament, hoffen viele Kommentatoren, der Kelch möge trotzdem an der Türkei vorbeigehen. Entweder, weil der Widerstand im Irak selbst zu massiv wird oder weil es mit den USA zu keiner Einigung bei den offenen Fragen über Ort, Umfang und Art des Einsatzes kommt. Werden die Truppen tatsächlich in Marsch gesetzt, könnte der Irak für Erdogan zu einem Albtraum werden, wie er es für Bush bereits ist. Letztlich zeigt die Entscheidung, dass auch diese türkische Regierung dem Irrglauben anhängt, sie könne politische Probleme durch militärische Machtentfaltung lösen. JÜRGEN GOTTSCHLICH