Die Grenzen des Wachstums

Chinas Bauern sind unzufrieden. Sie können sich kein Zubrot mehr verdienen, ihren Kindern droht Arbeitslosigkeit

PEKING taz ■ Seine erste öffentliche Rede als neuer Parteichef hielt Hu Jintao in dem Dorf Xibaipo, in den Hügeln am Rand der Pekinger Tiefebene. Hier wähnten ihn die Parteifunktionäre auf sicherem Terrain. Denn jeder Bauer in Xibaipo hat von der Regierung eine Solar- und eine Biogasanlage gestellt bekommen.

Doch auch nach zwanzig Jahren wirtschaftlichen Rekordwachstums werden Chinas soziale Pobleme nicht kleiner. Bauern wollen heute mehr als ein Leben ohne Hunger und Not. Statt nur brav ihre sozialistisch zugeteilte Scholle Land zu bearbeiten, verlangen sie nach Saisonarbeit in den Städten und einer beruflichen Zukunftsperspektive für ihre Kinder.

So wie die Bäuerin Jiao Yuying in Xibaipo, in deren ärmlichem, aber gepflegtem Ziegelhäuschen es für die alten, sozialistischen Verhältnisse an nichts fehlt. Sie hat ihre drei Kinder längst auf die Oberschule in die fünfzig Kilometer entfernte Provinzhauptstadt geschickt, damit sie nach der Schule einmal im Büro oder in der Fabrik arbeiten, aber nicht mehr die harte Landarbeit übernehmen müssen. Doch genau das erweist sich heute als schwierig. Jiaos älteste Tochter, eine selbstbewusste 22-Jährige, hat nach der Oberschule sogar noch eine Sekretärinnenschule besucht und in einer Hongkonger Firma in Schanghai gearbeitet, bis sie vor kurzem arbeitslos wieder vor der Tür ihrer Eltern stand. „Auch wenn die Kinder tüchtig sind, hören sie nicht auf, einem Sorgen zu bereiten“, seufzt JiaoYuying.

So stoßen viele Chinesen erstmals auf die Grenzen des Wachstums. Vor gar nicht langer Zeit fand noch jeder Bauer, der den Mut hatte, in die Stadt zu gehen, eine vergleichsweise gut bezahlte Arbeit. Heute ist das nicht mehr so. Zugleich aber erkennen alle die schnell wachsende Ungleichheit im Land. Da fährt der Tankstellenbesitzer auf dem Land eine Luxuslimousine, während der Bauer von nebenan immer noch den Eselskarren führt. Da bezieht der Restaurantbesitzer in der Stadt eine neue Villa, während der Grundschullehrer immer noch in einer winzigen Zwei-Zimmerwohnung zurechtkommen muss.

Experten der Weltbank haben berechnet, dass China heute das Land mit der am schnellsten wachsenden Ungleichheit in der Welt ist. Lagen Arm und Reich bis Mitte der Achtzigerjahre noch enger als in Dänemark beieinander, nähert sich China heute lateinamerikanischen Verhältnissen. Wobei überraschte, dass die Weltbank ihren Befund kürzlich in Peking veröffentlichen durfte. Immerhin scheint die neue politische Führung die sozialen Probleme nicht mehr verschweigen zu wollen. GEORG BLUME