Alte Tugenden, neue Politik

Von der morgen beginnenden Tagung des Zentralkomitees der KP Chinas erwarten viele Streit und einen neuen Kurs in Richtung Demokratie

aus Peking GEORG BLUME

Führungswechsel in China brauchen Zeit. Was einst für die Kaiser galt, gilt auch heute noch für die kommunistischen Parteiführer. So musste Deng Xiaoping über zwei Jahre nach Mao Tsetungs Tod verstreichen lassen, bis er auf dem legendären 3. Plenum des 11. Zentralkomitees im Dezember 1978 seinen Führungsanspruch durchsetzen konnte. Nachfolger Jiang Zemin wartete nach seiner Ernennung zum Parteichef sogar acht Jahre auf Dengs Tod im Februar 1997, bis er maßgeblich die Richtung der Partei angeben konnte. Umso gespannter sieht das Land deshalb dem 3. Plenum des 16. Zentralkomitees (ZK) entgegen, das morgen in Peking seine viertägigen Beratungen eröffnet. Vieles deutet daraufhin, dass der im vergangenen November neu bestimmte Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, Hu Jintao, in den nächsten Tagen erstmals seine Karten auf den Tisch legen wird. Das entspräche einer Tradition, derzufolge die jeweils dritte Tagung des Zentralkomitees nach der Wahl eines neuen Parteichefs Richtlinienentscheidungen trifft.

Ein Richtungsstreit scheint unvermeidbar. Denn dass es Hu und seinem engsten Verbündeten in der Parteispitze, Premier Wen Jiabao, um mehr als kosmetische Veränderungen zur Politik ihrer Vorgänger geht, haben beide Politiker seit einem Jahr bei jeder sich bietenden Gelegenheit durchblicken lassen.

Schon ihre ersten von der Parteipropaganda aufgebauschten Auftritte nach Jiangs Rücktritt als Parteichef dienten der symbolischen Kritik am Status quo. Hu besuchte das Bergdorf Xibaipo südwestlich von Peking, von dem aus Mao einst die wichtigsten Schlachten im Bürgerkrieg gegen die Kuomintang befehligt hatte. Dabei erinnerte Hu an die von Mao in Xibaipo aufgestellten „Unbedingt-Forderungen“: Bescheidenheit und Sparsamkeit. Heute habe sich, so stellte Hu fest, ein Geist der „Geldgier, Genusssucht und Verschwendung unter Kadern und Parteimitgliedern“ ausgebreitet.

Wenig später wurde ausgerechnet in Schanghai, der Residenzstadt Jiangs, ein bedeutender Korruptionasskandal ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Die Botschaft Hus war damit unmissverständlich: Jiangs Republik war keine saubere. Der Kampf gegen die Korruption, aus dem sich in China traditionell alle politischen Reformansprüche ableiten, würde mit ihm neu beginnen müssen.

Nicht weniger düster zog Premierminister Wen Jiabao die Bilanz seiner Vorgänger, als ihn seine erste, weithin publizierte Reise in diesem Jahr in die Arbeitslosenhochburg Fuxin in der Mandschurei führte. Wenig später rechnete Wen der Öffentlichkeit vor, dass in China jährlich 10 Millionen Menschen neu auf den Arbeitsmarkt drängen, die Zahl der Arbeitslosen in den Städten bereits bei 14 Millionen liegt und daneben noch 120 Millionen Wanderarbeiter Arbeit suchen. Das waren von Regierungsseite bislang unveröffentlichte Zahlen, die wiederum eine klare Botschaft beförderten: Statt nur ums Wirtschaftswachstum wie unter Jiang müssten sich die Kommunisten von nun an mehr um seine Folgen kümmern – insbesondere die wachsende Arbeitslosigkeit.

Im Laufe dieses Jahres gelang Hu und Wen dann während der Sars-Epidemie ein gelungener Einstand im Regierungsgeschäft. Seitdem beide Führer ohne Atemmasken durch Krankenhäuser tourten und sich auch sonst in jeder Phase der Epidemie öffentlich zeigten und Verantwortung übernahmen, sind der neue Präsident und sein Premierminister der breiten Bevölkerung überhaupt bekannt. Zugleich gewannen sie innerhalb der Partei an Profil.

Hu verlangt mehr Demokratie, Wen zugleich mehr nachhaltiges Wachstum. Jedenfalls sagen das die beiden. Hu hielt seine programmatische Rede zur Tagung des Zentralkomitees vergangene Woche – und erwähnte das Wort „demokratisch“ oder „Demokratie“ gleich achtmal innerhalb von zwei Sätzen. Das musste auffallen. Unüberhörbar forderte er ein „systematisches Projekt“, das der Bevölkerung eine größere Beteiligung am politischen Geschehen ermögliche.

Ebenso kategorisch präsentierte Premierminister Wen vor einigen Wochen einen neuen wirtschaftspoltischen Ansatz, der größeres Gewicht auf die Entwicklung der Landbevölkerung, der benachteiligen Regionen und der Umwelt legt. Nun kommt es darauf an, ob das Zentralkomitee die neuen Ideen aufnimmt. Ein Abschlusskommuniqué am Dienstag, das wieder nur die alte Formelwelt Jiang Zemins beschwört, würde Hu und Wen frühzeitig machtlos erscheinen lassen. Deutliche Verweise auf Demokratie und nachhaltiges Wachstum hingegen könnten bedeuten, dass die großen Themen der Vereinten Nationen endlich auch im Pekinger Machtzentrum angekommen sind.