Jugend wird zum unbeweglichen Speckberg

Jedes fünfte Kind im Ruhrgebiet ist zu dick – und liegt damit europaweit im Trend. Zwei Tage suchen europäische Wissenschaftler in Essen nach Lösungen. Auf dem Prüfstand steht der Lebensstil mindestens einer Generation

ESSEN taz ■ Herzinfarkte, Altersdiabetes, zu hoher Blutdruck – eigentlich sind das Alterskrankheiten. In den letzten fünf Jahren kamen aber auch junge Patienten mit solchen Beschwerden zum Arzt, manche davon weit unter 18. Adipositas heißt das Problem dieser Kinder und Jugendlichen. Zu deutsch: Fettsucht – so extremes Übergewicht, dass die Körperfunktionen unter den Speckbergen versagen.

Fünf Prozent aller Ruhrgebietskinder sind derartig dick, so das Landesinstitut für den öffentlichen Gesundheitsdienst. Die Daten stammen aus den Einschulungs-Untersuchungen der kommunalen Gesundheitsämter und bergen noch mehr unangenehme Überraschungen: 11 Prozent aller nordrhein-westfälischen Grundschulkinder sind zu dick, fast die Hälfte hat motorische Störungen. Tendenz steigend. „Man kann davon ausgehen, dass übergewichtige, unbewegliche Kinder zu übergewichtigen, unbeweglichen Erwachsenen werden“, sagt Roland Naul, Sportprofessor an der Uni Duisburg-Essen.

Zusammen mit seinem Kollegen Wolf-Dietrich Brettschneider von der Uni Paderborn vergleicht der Wissenschaftler europaweit Daten von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen. Auf dem Prüfstand steht der Lebensstil mindestens einer Generation – falsche Ernährung ist dabei nur eine Ursache von vielen. „Kinder ernähren sich zu fett und zu süß“, sagt Naul. „Das könnten sie durch entsprechenden Energieverbrauch kompensieren – sie bewegen sich aber viel weniger als ihre Altersgenossen früherer Generationen.“

Über das Warum diskutieren auf einer EU-Fachtagung in Essen noch bis heute Abend Wissenschaftler aus 25 europäischen Ländern. „Der Lebensstil hat sich grundlegend verändert“, meint Wolf-Dietrich Brettschneider. „Es gibt für Kinder viele Anreize, sich nicht zu bewegen, sondern Fernsehen zu gucken, Computer zu spielen oder per SMS zu kommunizieren.“

Neu sind diese Erkenntnisse nicht – allerdings werden sie von Brettschneider und Naul erstmals systematisiert. Deutsche Kinder sind im europäischen Vergleich durchschnittlich fett, haben sie festgestellt. Britische Kinder sind fetter, skandinavische schlanker. Auch was ihre Beweglichkeit angeht, haben es die deutschen Kinder nicht auf die europäischen Spitzenplätze geschafft: Sie sind durchschnittlich faul, gucken wie der europäische Durchschnitt täglich vier Stunden Fernsehen und verbringen fast zehn Stunden am Tag im Liegen. Beim Trinken und Rauchen liegen die deutschen unter 18-Jährigen jedoch ganz weit vorn, stellt eine gestern veröffentlichte Studie der Weltgesundheitsorganisation fest.

Genau wie Naul und Brettschneider stellten die Forscher dort fest: Kinder aus sozial schwachen Familien leben besonders ungesund. In NRW zeigen das schon die Einschulungs-Statistiken: In den ländlichen Kreisen Unna und Kleve mit deutlich niedrigen Arbeitslosen- und Sozialhilfequoten sind nur halb so viele Kinder übergewichtig wie im Ruhrgebiet. „Die soziale Schere bricht eben immer weiter auseinander“, sagt Naul.

MIRIAM BUNJES