Dea Loher findet ein bisschen Glück im Elend

Der Abend beginnt mit einem Klick ins Publikum. Concha, die Sekretärin, macht Fotos. „Eines für jeden Tag.“ Sie schießt sie beiläufig, aus ihrer altmodischen schwarzen Handtasche heraus. Am Schluss werden nur die Bilder von ihr übrig bleiben. Alle suchen sie nach ihrem Platz im Leben, die Gestalten auf der Praça Roosevelt, einem der zahllosen Plätze in der Millionenstadt São Paulo. Dort ist „alles am falschen Ort“, klagt der Polizist Mirador. Die Dealer schlafen auf den Bäumen, und der Obdachlose unter der schwarzen Plastikplane schreibt Fürbitten für die, die noch Hoffnung haben. „Die Menschen sind dort nicht weniger einsam als hier“, sagt Dea Loher, die das Stück für die Kunstbiennale in São Paulo geschrieben und vor Ort recherchiert hat.

Einsam sind sie zwar, die Menschen auf der Praça Roosevelt, doch sie haben den Kampf um ihre Scheibe vom Glück noch nicht ganz aufgegeben. Wie als Protest gegen die Begrenzung ihres Daseins werfen sie sich immer wieder gegen die glatten, weißen Plastikbühnenwände.

Andreas Kriegenburg, der fast alle Stücke Lohers uraufgeführt hat, beweist am Thalia in der Gaußstraße, dass er ihre unprätenziös-poetische Sprache versteht und in Bilder umsetzen kann – indem er sie filtert und verfremdet: Einmal wird der Dialog nur eingeblendet, erscheint auf einer Leinwand wie bei einem Stummfilm. Ein anderes Mal sprechen Stimmen aus dem Off die Gedanken aus, die sich die Protagonisten nicht zu sagen trauen. Techniken, die den traurigen Episoden etwas von ihrer Schwere nehmen. Denn wer über den anderen erzählt, kann oft noch den Witz erkennen, der in jeder Tragik steckt.

Man schließt sie ins Herz, die Menschen auf der Praça Roosevelt: den melancholischen Waffenfabrikanten Vito, der sich in das spielsüchtige Mädchen Bingo verliebt. Und natürlich Concha, die krebskranke, fotografierende Sekretärin, die ihrer einzigen Freundin, dem in die Jahre gekommenen Transvestiten Aurora am Ende ihre Bilder-Sammlung vermacht. Es ist ein verwackeltes Erbe, das sie hinterlässt, fast alle Fotos sind schwarz oder unscharf. Die Bilder hingegen, die nach dem Abend in den Köpfen der Zuschauer zurückbleiben, sind gestochen scharf.

Carolin Ströbele

Dea Loher: Das Leben auf der Praça Roosevelt. Vorstellungen: 18. 6., 20 Uhr und 20. 6., 19 Uhr, Thalia in der Gaußstraße, Hamburg