Mobile Lebensschule

Wenn sich Bauhandwerker zünftig auf Wanderschaft begeben, sind sie drei Jahre und einen Tag fern der Heimat. Doch die Walz boomt, auch weil Betriebe derzeit lieber befristet als fest anstellen

von Tonio Postel

Heute abend sind sie alle Brüder. Der alte Mann im hellgrauen Kord-Sakko und der junge Mann fast ganz in Schwarz. Der Herr mit dem Rauschebart und den fröhlichen Fältchen um die Augen und der an der Theke mit der sonnenverbrannten Nase und dem schwarzen Schlapphut, den er selbst in der Gaststätte partout nicht abnehmen möchte.

Ein Stück Stoff entscheidet über Bruderschaft oder Anonymität: Eine Art Krawatte ohne Knoten – die sogenannte „Ehrbarkeit“. Bei den Mitgliedern des Fremden Freiheitsschachtes muss diese rot sein, damit man weiß, wen man seinen Bruder nennen darf und wen nicht.

Heute ist Gesellenabend. Die jungen Männer, die den Raum betreten, grüßen zünftig: Zuerst auf den Tisch geklopft, dann erst wird die Hand gereicht. „Grüß dich, Bruderherz.“ Hayo Koch-Callies, der eine Zimmerei in Thedinghausen (Kreis Verden) betreibt, sagt: „Im Schacht gelten alle als Gesellen, auch wenn sie schon Meister sind.“ Die Handwerker vom Fremden Freiheitsschacht – Maurer, Zimmerer und Dachdecker – treffen sich wenigstens einmal im Monat, immer am dritten Samstag, im „Clubheim“, der Vereinsgaststätte des FC St. Pauli. „Wenn wandernde Gesellen in der Stadt sind, treffen wir uns jeden Samstag“, erzählt Koch-Callies.

Diesmal machen zwei Wandernde aus Berlin in Hamburg Station. Frederik, einer von ihnen, ist seit eineinhalb Jahren auf der Walz. Der 27-jährige Zimmerer und sein Kollege kommen gerade von den kanarischen Inseln. In der Sonne gelegen hätten sie dort aber weniger. „Wir waren auf Arbeitssuche, konnten jedoch nichts finden und deshalb auch nichts lernen“, erzählt Frederik. Nur dass man in Spanien weniger mit Holz baue und auch sonst „keinen hohen Standard“ pflege, will er beobachtet haben.

Mindestens drei Jahre und einen Tag sind Gesellen der Zimmerer- oder Maurerzünfte unterwegs, wenn sie sich auf die so genannte Walz begeben. „Leute kennen lernen und seinen Blick auf die Welt erweitern“, ist für Frederik der Reiz der langen Reise. „Du musst irgendwo übernachten, du weißt nie, was passiert, und du triffst Menschen, die du sonst nie trefen würdest“, fügt Koch-Callies hinzu. „Es ist eines der letzten Abenteuer unserer Zeit.“ Bedingungslos ist das Abenteuer nicht zu haben. Per Abstimmung entscheiden die Schachtmitglieder über handwerkliche und charakterliche Walzeignung. Unverheiratet muss der Wandergeselle zudem sein und schuldenfrei. Seinem Wohnort darf er sich, außer in Notfällen, nur auf 50 Kilometer nähern und spätestens nach drei Monaten am gleichen Arbeitsplatz muss er weiterziehen.

Und er fällt auf. „Die meisten Leute sind wegen unserer Kleidung sehr neugierig auf uns“, erzählt Frederik. Denn Wanderer tragen grundsätzlich ihre Handwerkskluft, also Jacke, Weste und Schlaghose aus Kord, die während der Walz nur beim Waschen und zum Schlafen abgelegt werden darf. Dabei gilt: Zimmerer tragen schwarze, Maurer meist weiße oder beige und Dachdecker auch mal graue, meist aber ebenfalls schwarze Kluft. Die Hutregel ist weniger strikt: Ob Melone, Zylinder oder Schlapphut – Hauptsache, die Kopfbedeckung ist schwarz. Nach gut einem Jahr ist die Kleidung des Wanderers üblicherweise verschlissen und muss für etwa 700 Euro erneuert werden.

„Viele halten uns Gesellen für Musiker“, sagt Frederik, und hierzulande werde man, im Gegensatz zum Ausland, „schon mal verspottet“. Das grundsätzliche Ablehnen von Gewalt gehört für ihn aber genauso zum Selbstverständnis eines wandernden Gesellen wie „eine gewisse Weltoffenheit“. Frederik empfindet das Wandern als „Lebensschule“, die ihn bereits durch ganz Deutschland, nach Holland, in die Schweiz sowie nach Dänemark und Polen führte, wo er Fachwerk- und Dachstuhl-Sanierungen durchführte oder Garten-Tore aus Lärchenholz zimmerte. Hayo Koch-Callies baute in Marseille Holzhäuser, schalte in Weil am Rhein Fahrstuhlschächte ein und half in Düsseldorf, den Kanal zu erneuern. Dabei kann jede Station eine berufliche Chance sein: „Vielleicht finde ich eine Aufgabe fürs Leben oder etwas, wo ich was aufbauen kann“, hofft Frederik.

Tatsächlich ist das Interesse an der Walz derzeit groß. „Das Wandern boomt gerade, weil die Betriebe momentan lieber befristete Arbeit vergeben als fest einzustellen“, sagt Zimmerer Andreas Stemmer vom Fremden Freiheitsschacht. Günther Röper, Altgeselle der Rechtschaffenen Zimmerer- und Schieferdecker-Gesellen zu Hamburg, bestätigt dies. „Unsere Gesellen werden überall gern genommen, weil sie gut sind. Wir schicken ja auch nicht jeden auf Wanderschaft.“ Es gebe von Betrieben sogar des Öfteren Anfragen nach Gesellen – im Moment allerdings eher aus Süddeutschland.

Eine gültige Lohnsteuerkarte müssen die mobilen Handwerker also stets zu ihren Siebensachen packen. Und sie müssen über das richtige Geschlecht verfügen. Denn anders als bei den alternativen Schächten von Axt und Kelle und dem Freien Begegnungsschacht bleibt Frauen die Aufnahme beim Fremden Freiheitsschacht immer noch verwehrt. Aus „Tradition“, erklärt Zimmerer Andreas Stemmer. „Früher gab es eben keine Frauen auf dem Bau, die durften ja nicht mal wählen.“