Mehrstimmig näher an die Bürger

Beim Volksentscheid über ein neues Wahlrecht für Hamburg am 13. Juni stehen ein Entwurf der Bürgerschaft und einer der Initiative „Mehr Bürgerrechte“ zur Abstimmung. Im taz-Streitgespräch: Walter Zuckerer (SPD) und Manfred Brandt (Initiative)

„Die Kandidaten werden sich in den Wahlkreisen um Bekanntheit bemühen müssen“: Manfred Brandt „In Großwahlkreisen mit mehreren Kandidaten, wie sie die Initiative will, sind die Parteien so mächtig wie bisher“: Walter Zuckerer

Moderation: GERNOT KNÖDLER

taz: Herr Zuckerer, Ihr Hauptargument gegen den Vorschlag der Initiative lautet, dieser sei zu kompliziert. Sind Hamburger dümmer als Bayern, die seit Jahrzehnten mit ähnlichen Wahlverfahren zurecht kommen?

Walter Zuckerer: Natürlich nicht. Aber mein Hauptvorwurf ist gar nicht, dass der Vorschlag der Initiative kompliziert ist, er ist auch nicht bürgernah. Der Vorschlag sieht 17 Großwahlkreise mit 50.000 Wählern vor, und in jedem dieser Kreise fünf Kandidaten jeder Partei. Das bedeutet, dass eine unmittelbare Beziehung von BürgerInnen in einem Quartier und PolitikerInnen kaum gegeben ist. Ersatzweise kann man dann zwischen mindestens 20 bis 25 Kandidaten der größeren Parteien direkt wählen, immer vorausgesetzt, man kennt sie auch. Dann haben Sie noch fünf Stimmen für die Landeslisten. Mehr Stimmen in anonymen Großwahlkreisen bedeuten aber nicht, dass es besser oder bürgernäher wird.

Herr Brandt, Ihre Initiative will ja ein bürgernahes Wahlrecht. Wie verträgt sich das mit der Kritik von Herrn Zuckerer?

Manfred Brandt: Rund 70 Prozent der Menschen in dieser Republik kommen mit Systemen klar, die weitaus komplizierter sind, als wir es vorschlagen. Uns ist es gelungen, den Wählerinnen und Wählern viel Einfluss zu geben darauf, wer von den Parteien in die Parlamente kommt und es trotzdem einfach zu halten. Der Wahlzettel ist wie bei der Bundestagswahl aufgebaut, nur dass ich statt eines Kreuzes jeweils fünf Kreuze vergeben kann.

Der Einwand lautet aber: Es würde die Wähler überfordern, wenn sie 25 Kandidaten in ihrem Wahlkreis kennen müssten.

Brandt: Wir haben jetzt einen Zustand, bei dem keiner die Abgeordneten kennt. Das liegt aber am jetzigen Wahlrecht. Das wollen wir ändern, so dass eine Beziehung zwischen Wählern und Gewählten entsteht. Durch unseren Vorschlag werden sich die Kandidaten in den Wahlkreisen um Bekanntheit bemühen müssen. Dadurch entsteht ein Wettbewerb auch zwischen den Kandidaten innerhalb der Parteien.

Fakt ist aber, dass man sich um die inhaltlichen Positionen von 25 Abgeordneten statt von fünf Parteien kümmern müsste.

Brandt: Wenn man mehr Auswahl hat, kann man mehr Einfluss auf die Qualität nehmen. Jetzt entscheiden die Parteien, wer als geeignet zu gelten hat. Das ist ein unbefriedigender Zustand, der dazu geführt hat, dass viel Parteienfrust da ist. Den gibt es auch bundesweit, und das hat sehr viel mit dem Bundestagswahlrecht zu tun. Nach einer Umfrage im Stern vertrauen nur noch zwölf Prozent der Menschen den Parteien. Das kann so nicht weitergehen.

Zuckerer: Es gibt sicherlich Parteienverdrossenheit. Dass hängt aber weniger mit Personen als mit den Erwartungen von Wählerinnen und Wählern zusammen, wie die politischen Probleme gelöst werden sollen. Wenn die Parteien keine Lösungen entwickeln, die die Menschen befriedigend finden, dann gibt es natürlich Parteienverdrossenheit – mit Recht.

Die Initiative behauptet, dass sich mit Ihrem Vorschlag, das Bürgerschaftswahlrecht am Prinzip der Bundestagswahl auszurichten, nichts ändern würde.

Brandt: Die Abgeordneten in Hamburg sind heute sehr parteienfixiert – besonders durch die geschlossenen Listen, aber auch nach dem Bundestagswahlrecht würde sich das nicht ändern. Entscheidend ist es, zu einer Wählerorientierung zu kommen. Ich baue nur eine Beziehung zu einem Abgeordneten auf, wenn ich ihn auch ausgewählt habe, und ich baue nur eine Vertrauensbeziehung zu Abgeordneten meiner bevorzugten Parteien auf. Das ist das große Problem der Wahlkreise mit nur einem Kandidaten. Dieser soll den Wahlkreis insgesamt repräsentieren, aber er ist nicht die Vertrauensperson der SPD- und der Grünen-Wähler, wenn er ein CDU-Abgeordneter ist. Die müssen sich andere Ansprechpartner im Parlament suchen.

Herr Zuckerer, erklären Sie uns bitte, warum die Menschen mit Ihrem Modell mehr Einfluss hätten als heute.

Zuckerer: Wir hatten bisher nur das Listenverfahren. Das war anonym und gab den Parteien einen sehr großen Einfluss. Nach dem von CDU und SPD vorgeschlagenen Modell gäbe es Wahlkreise, nach Möglichkeit stadtteilbezogen, in einer Größenordnung von etwa 20.000 Menschen. Das würde dazu führen, dass man sich vor Ort für einen Kandidaten entscheiden kann, aber auch zwischen den verschiedenen Parteien entscheiden muss. Demokratie ist auch Entscheidung und nicht Beliebigkeit! Das System der Initiative erlaubt dagegen so etwas wie Cocktail-Mixen: Ein bisschen schwarz, ein bisschen rot, oder ganz viel schwarz, mal nur einer, mal fünf verschiedene... Das mag spannend sein, aber dass es zu mehr Demokratie und Bürgernähe führt, bezweifele ich. Vor allem in Großwahlkreisen wie zum Beispiel Harburg, der von Wilhelmsburg bis Neugraben-Fischbek reicht, ist Bürgernähe eine Illusion. Das Modell der Initiative ist für mich nichts anderes als Wahlkreise mit Listen.

Brandt: Wir suchen verschiedene Menschen, wir suchen nicht verschiedene Farben aus. Das ist ein großer Unterschied. Das Herzstück unserer Reform sind die Wahlkreise, deren größter kleiner ist als in allen anderen Bundesländern. Im Wahlkreis Harburg würden vier Abgeordnete gewählt, es würden wahrscheinlich zwei von der SPD und zwei von der CDU sein und die werden eine Arbeitsteilung machen: jeweils einer orientiert sich mehr auf Wilhelmsburg, der andere auf Süderelbe, und sie können sich auch mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen gut ergänzen. Die ganze Wahlkreisarbeit wird effektiver.

Es ist ziemlich lange diskutiert worden, das Wahlrecht zu ändern. Warum brauchten die Parteien den Tritt von der Initiative?

Zuckerer: Die Diskussion in der SPD läuft seit 20 Jahren. Das Problem war, dass wir Wahlkreise nicht gegen den Willen der damals größten Oppositionspartei, der CDU, einführen wollten. Man muss einräumen, dass die Initiative erreicht hat, dass sich die Parteien bewegt haben.

Brandt: Das Problem war, dass unser Vorschlag gravierend die innerparteilichen Machtstrukturen verändern wird.

Zuckerer: Das wird der andere Vorschlag auch.

Brandt: Bei weitem nicht! Das sehen wir beim Bundestagswahlrecht. Gerade weil Sie wenige Wahlkreisabgeordnete haben. Das Verhältnis 50:70 wird dazu führen, dass es viele sichere Listenplätze gibt. Es würde sich daher gar nicht so viel ändern. Das Entscheidende ist, dass die Parteiführungen kein Interesse daran haben, die innerparteilichen Machtstrukturen zu ändern.

Zuckerer: Das glaube ich nicht. Bei der Einführung von Wahlkreisen gleich welchen Systems werden die Strukturen der Parteien stark dezentralisiert. Nach unserem Vorschlag würde zum Beispiel der/ die Abgeordnete von Ottensen in Ottensen aufgestellt, und es würden ihn nur Ottenser Mitglieder der SPD vorschlagen. Darauf kann ein Vorstand der SPD-Hamburg kaum Einfluss nehmen. Wer als Abgeordneter einen Wahlkreis gewinnt, hat auch ein anderes Gewicht. Die Personalauswahl der Parteien wird sich erheblich ändern. In Großwahlkreisen mit mehreren Kandidaten, wie sie die Initiative will, sind die Parteivorstände so mächtig wie bisher!

Brandt: Nach ihrem Vorschlag gibt es am Ende nur einen Kandidaten, den ich wählen kann oder nicht. Wir wollen eine Vorauswahl durch die Parteien ermöglichen, und dann bestimmen die Wähler, wen sie haben wollen. Das schafft die Bindung. Die Wirkung auf die Parteien wird durchschlagend sein.