„Zum Glück gibt es hier keinen Haider“

Das Volksbegehren zur Abwahl des rot-roten Senats hat begonnen. Die Kontroversen halten aber an. Klaus Eisenreich von der Gewerkschaft der Polizei (GdP), FU-Professor Peter Grottian und der ehemalige PDS-Politiker Michael Prütz im Streitgespräch

MODERATION FELIX LEE
UND ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Herr Eisenreich: War der schwarz-rote Senat sozialer als Rot-Rot?

Klaus Eisenreich: Die Parteien haben zwar unterschiedliche Programme, aber letztlich geht es bei ihnen allen um dasselbe: den Machterhalt. Den Wählern fehlen die Alternativen. Mit unserem Volksbegehren wollen wir die Politiker unter Druck setzen, damit sie sich wieder an den Interessen des Volkes orientieren.

Was sind die Interessen des Volkes?

Eisenreich: Die Leute schauen auf ihr Einkommen und stellen fest, dass sie gebeutelt werden: Gesundheits- und Rentenreform, Urlaubsgeld fällt weg, kein Weihnachtsgeld mehr, die Kitas haben Probleme. Die Menschen sind aber nicht mehr bereit, diese Kürzungen hinzunehmen.

Und Ihr Volksbegehren soll all das wieder rückgängig machen?

Eisenreich: Das werden wir dann sehen. Zunächst einmal nehmen wir ein in der Berliner Verfassung verankertes Bürgerrecht wahr, um ein Zeichen gegen die Hinterzimmermentalität zu setzen. Wir wollen, dass das Volk entscheidet.

Herr Prütz, was soll nach einem geglückten Volksbegehren passieren?

Michael Prütz: Wir bauen unsere Wahlalternative auf und kandidieren.

Mit welchem Thema?

Prütz: Mit der sozialen Frage.

Sie wollen den Verlierern eine Stimme geben?

Prütz: Für mich ist der rot-rote Senat der neoliberalste Senat, den die Stadt je hatte. Denen ist doch völlig wurst, was auf der Straße passiert.

Aber was ist die Alternative zu Rot-Rot?

Prütz: Natürlich wünschen wir uns keinen CDU-FDP-Senat, aber die Parteien unterscheiden sich doch nur noch im Tempo der neoliberalen Umgestaltung. Bei PDS und SPD wird es im Wahlkampf heiße Diskussionen geben. Da bin ich mir sicher. Sie müssen sich dann neu positionieren.

Peter Grottian: Genau da liegt eure Schwäche. Ihr nehmt zwar die Wut der Berliner ernst. Aber wenn ihr die Parteien zu einer neuen Positionierung bringen wollt, dann müsst ihr doch bitte schön mehr sagen als nur: Keine Kürzungen bei Kitas, bei der Polizei, bei den Hochschulen. Die Wähler interessiert, was ihr zu sozialen Kürzungen sagt, zu Privatisierungen, zu den Auswegen aus dem Finanzdesaster der Stadt. Weder GEW noch die GdP haben ein klares Konzept. Das gilt auch für das Wahlbündnis. Ihr könnt doch kaum damit rechnen, die Berliner mit einem Negativkatalog zu begeistern.

Sie glauben also nicht an den Erfolg dieses Begehrens?

Grottian: 50.000 Unterschriften zusammenzubringen ist nicht schwer. Anders sieht es aber mit der nächsten Hürde aus, nämlich 480.000 Menschen zu den Bezirksämtern zu mobilisieren. Wir sehen doch, dass die Grauen Panther mit ihrer Initiative in der Versenkung verschwunden sind, weil sie inhaltlich nichts zu bieten hatten.

Prütz: Natürlich brauchen wir Konzepte. Aber es gibt ja eine Reihe von Vorarbeiten. Du hast selbst mit deiner Bankeninitiative konzeptionelle Ideen vorgelegt. Das Problem ist bloß, dass sich in der Politik niemand dafür interessierte.

Eisenreich: Was sich die Allgemeinheit an politischen Alternativen vorstellt, sind immer nur einzelne Haushaltsfragen. GEW, GdP – wir fordern hier nicht unser Weihnachtsgeld zurück. Wir wollen eine grundsätzlich andere Politik. Die IG Metall hat auf Bundesebene im Übrigen auch schon mit einem Arbeitnehmerbegehren begonnen.

Grottian: Na toll.

Eisenreich: Aber Herr Grottian, was erwarten Sie? Wir nutzen urdemokratische Mittel: Volksbegehren und Unterschriftensammlungen. Der nächste Schritt wäre doch Rechtsbruch und Gewalt, was wir natürlich ablehnen. Wenn uns das Volksbegehren gelingt, dann wird die Politik umdenken. Nicht nur in Berlin. Das resignierte Volk wird endlich feststellen, dass wir noch etwas zu sagen haben.

Grottian: Ich habe einen Vorschlag, der weiter geht als Unterschriften sammeln. Wie wäre es mit einem zweistündigen Warnstreik?

Eisenreich: Sie reden über Rechtsbruch. Es gibt keinen politischen Streik in diesem Land.

Grottian: Eine zweistündige Arbeitsniederlegung wäre ein Mittel, das die Situation in Berlin angemessen darstellen würde. Das Arbeitnehmerbegehren der IG Metall zeigt doch nur: Die Gewerkschaften haben zu wenig Mut zum Kämpfen. In der Tarifauseinandersetzung zeigen sie vielleicht noch Kampfbereitschaft. Aber jetzt, wo es um die Frage geht, wie Tarifpolitik mit den allgemeinen Zuständen der Stadt zusammenzubringen ist, müssten sie kämpferischer sein. Dann müssen wir eben bewusst Regeln verletzen, um die einäugige „Sparrazin-Politik“ zu beenden.

Herr Prütz, was halten Sie von einem Generalstreik?

Prütz: Man muss ja nicht gleich von Generalstreik sprechen. Aber ich finde es gut, wenn Gewerkschaften während der Arbeitszeiten eine große Kundgebung vor dem Roten Rathaus abhalten. Darauf können wir zumindest hinarbeiten.

Herr Prütz möchte ein Bündnis von „vernünftigen Autonomen“ bis hin zu „Sozialkonservativen“. Herr Eisenreich, können Sie sich vorstellen, dass GdP-Polizisten zusammen mit Autonomen einen Demoaufruf schreiben?

Eisenreich: Vorstellen kann ich mir inzwischen alles. Unsere Mitglieder haben doch längst begriffen, dass 90 Prozent der Bevölkerung die Armutsfalle droht. Deswegen waren wir bei der Großdemo am 3. April auch so zahlreich vertreten.

Grottian: Die 250.000 Menschen am 3. April waren beeindruckend, aber ein Bündnis zwischen außerparlamentarischer Bewegung und Gewerkschaften ist nicht zustande gekommen. Vielmehr war es ein Bündnis unter Leitung der Gewerkschaften. Und dabei haben sie nicht eine Lippe riskiert zur Frage, wie es weitergehen soll, um den Sozialabbau zu verhindern. Wenn sich der DGB-Vorsitzende darüber entrüstet, dass die Herrschenden sich nicht mit ihm und der Demo auseinander setzen, dann hängt das damit zusammen, dass sie ihn nicht als sehr mächtig ansehen müssen – zu Recht, kreuzbrav, wie sie sind. Die Gewerkschaften sollten aufhören, der SPD auf dem Schoß zu sitzen.

Prütz: Die Gewerkschaften wissen nicht, wie sie sich der neuen Situation stellen sollen, vergleichbar mit einer Ehefrau, die zwanzig Jahre verheiratet war und der der Mann auf einmal sagt: Ich habe eine Geliebte. Die Ehefrau steht dann da und muss sich neu orientieren. Diesen Prozess machen Leute wie DGB-Chef Sommer gerade durch. Aber ich bin sicher: Der Ablösungsprozess wird weitergehen. Die SPD wird nämlich keinen Millimeter entgegenkommen.

In zwei Jahren sind in Berlin Wahlen. Werden die Gewerkschaften nicht spätestens dann wieder auf Schmusekurs zur SPD gehen?

Prütz: Es geht doch nicht nur um Gewerkschaften. Fakt ist doch: Die Leute fühlen sich von den Parteien nicht mehr repräsentiert. Es gibt im Parlament eine Lücke, die gefährlich ist. Wir haben bloß Glück, dass es in Deutschland keinen Haider gibt.

Grottian: Eine Wahlalternative im Sinne einer symbolischen Repräsentanz im Parlament in Kombination mit einer außerparlamentarischen Opposition befürworte ich ja auch. Die Wahlalternative hat es aber bisher versäumt, ihr Verhältnis zu außerparlamentarischen Initiativen auszuloten.

Hört sich irgendwie bekannt an. Gibt es diese außerparlamentarische Opposition überhaupt noch?

Grottian: Da weisen Sie auf ein sensibles Problem hin. Die außerparlamentarische Bewegung hat außer Demonstrationen im Moment kein zentrales politisches Projekt. Und das, obwohl der Widerstand gegen die Agenda 2010 eigentlich ansteht.

Prütz: Ein zentrales Projekt könnte die Frage nach der Arbeitszeitverlängerung sein, die Frage nach der Humanisierung der Arbeitswelt.

Haben Sie auch Argumente für die gewerkschaftsferne Mittelschicht, die im Moment nicht besonders von wirtschaftlichen Nöten geplagt ist?

Prütz: Was heißt „nicht von wirtschaftlichen Nöten geplagt“? Ich gehöre zur Mittelschicht. Wenn ich sehe, in welchem Zustand die Schule meines Sohnes ist – da sind doch alle Leute von betroffen.

Grottian: Die Menschen haben in der Tat eine sehr klare Vorstellung darüber, was sozial gerecht ist. Wenn Menschen, die vorher für ihr Sozialticket 20,40 Euro bezahlt haben, jetzt 48 Euro hinlegen müssen, dann gibt es eine große Mehrheit auch in Dahlem oder im Grunewald, die sagt: Das ist eine sozialpolitische Schweinerei.

Umfragen zeigen, dass 30 Prozent der Wähler eine linke Alternative befürworten würden. Die Wahlen in Hamburg haben aber gezeigt, dass gerade mal 1,1 Prozent die Wahlalternative dort unterstützten. Mit wie vielen Stimmen rechnen Sie?

Prütz: In Hamburg hat die Mehrheit zwar CDU gewählt, aber 70 Prozent waren bei der zeitgleichen Volksbefragung gegen die Privatisierung des Landeskrankenhauses. Ich glaube, dass sich eine Wahlalternative von bestimmten Dingen frei machen muss. Wir machen kein klassisches linkes Projekt, sondern wir wollen in Berlin ein Bürgerbündnis, das Alternativen zur neoliberalen Umgestaltung konstruiert. Ich bin sicher, 10 Prozent der Stimmen kriegen wir zusammen.

Was soll mit den 10 Prozent Stimmenanteil dann passieren?

Prütz: Wir wollen dafür sorgen, dass sich sozial Benachteiligte an uns wenden können und sagen: Vertretet unsere Interessen. Bei der Verscherbelung der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft zum Beispiel gab es im Abgeordnetenhaus nur eine Gegenstimme. Und das, obwohl 240.000 Mieter betroffen sind. Mit uns wird es so etwas nicht geben.

Herr Eisenreich, Sie sprechen von den Bedürfnissen der Menschen; warum gibt es bei der GdP keinen Mitgliederzuwachs?

Eisenreich: Weil uns unter anderem diese Senatspolitik angelastet wird. Vielleicht ist aber das Volksbegehren die Initialzündung dafür, dass die Leute merken: Sie stehen mit den Gewerkschaften auf derselben Seite der Barrikade.

Was passiert, wenn Sie gleich an der ersten Hürde dieses Volksbegehrens scheitern?

Prütz: Dann sieht die Perspektive für fortschrittliche Politik in Berlin mau aus. Aber bei allen Problemen, die uns noch bevorstehen, eins konnte ich zumindest schon feststellen: Bei unseren Veranstaltungen nehmen immerhin mehr Leute teil als an den Wahlveranstaltungen der Parteien zu den Europawahlen. Da sitzen nämlich selten mehr als zehn Leute.