„Die Scheindemokratie ist im Westen auf dem Vormarsch“ , sagt Paolo Flores D’Arcais

Berlusconi ist nicht die Ausnahme, sondern eher das Beispiel, das den westlichen Demokratien droht

taz: In Ihrem Buch sprechen Sie immer wieder von „Demokratie im Niedergang“, gar von „Scheindemokratie“. Betrachten Sie Europa oder die USA gar nicht mehr als demokratisch?

Paolo Flores D’Arcais: Ja und nein. In Deutschland, in den USA, in Italien wählen Bürger ihre Regierung; die Meinungsfreiheit ist verfassungsmäßig garantiert. Und doch müssen wir Land für Land schauen, ob diesen Verfassungsgarantien heute noch effektive Garantien gegenüber stehen. Auch in Kolumbien oder Algerien wird gewählt. Doch wissen wir, dass Algerien keine Demokratie ist und dass in Kolumbien die Kandidatur als Staatspräsident der sicherste Weg ist, sein Leben zu riskieren.

In Deutschland oder Italien aber nicht.

Gewiss. Ich will damit nur sagen, dass man genau hinsehen muss. In den westlichen Ländern ist die Demokratie – in unterschiedlichem Maße – noch lebendig, Elemente der Scheindemokratie sind aber auf dem Vormarsch. In Italien etwa können wir von Medienpluralismus nicht mehr sprechen. 90 Prozent der Bürger informieren sich ausschließlich über das Fernsehen – und das wird in Italien komplett von einem Mann kontrolliert, der zudem Regierungschef ist.

Berlusconi stößt deshalb ja auch im Ausland auf Kritik – als Besorgnis erregender Ausnahmefall. Sie dagegen glauben, dass die Demokratie nicht nur in Italien ausgehöhlt wird.

Da müssen wir nur auf die USA schauen. Die sind, anders als Italien, kein zweitrangiges Land, sondern das Herz des freien Westens. Dort konnten die Bürgerrechte drastisch eingeschränkt werden, die US-Armee folterte systematisch Gefangene. Genauso Besorgnis erregend ist, dass die US-Bürger monatelang von den Medien des Landes über die angeblichen Massenvernichtungswaffen Saddams belogen wurden. So werden Bürger faktisch ihrer Souveränität beraubt, da sie an einer auf korrekter Information beruhenden Ausübung des freien Willens verhindert werden.

Einverstanden. Weniger Anklang dürfte wohl Ihre These finden, dass die demokratischen Massenparteien nicht im Gegensatz zu den in verschiedenen Ländern aufkommenden populistischen Bewegungen stehen – sondern ihn selbst verantworten.

Die populistischen Kräfte sind eine effektive, zugleich aber marginale Gefahr. In Italien wird Bossi von der Lega Nord gern an den Pranger gestellt, aber die wirkliche Gefahr ist Berlusconi. In Amerika zeigte man mit dem Finger auf Ross Perot, aber die wirkliche Gefahr für die Demokratie ist Bush. In Frankreich oder Deutschland sind wir noch nicht so weit. Und doch hatte eine Partei wie die CDU kein Problem damit, Berlusconis Forza Italia in die EVP aufzunehmen – auf europäischer Ebene akzeptiert sie also einen antidemokratischen Populismus, den sie zu Hause ablehnt.

Sie greifen auch die Linksparteien an. Was werfen Sie ihnen vor?

Diese Parteien sind blind gegenüber einer neuen Form von Politikverdrossenheit. Immer mehr Bürger sind vom Politikbetrieb per se angewidert. Früher galt diese Haltung generell als reaktionär und populistisch. Heute dagegen gibt es eine Politikverdrossenheit, die eigentlich in Anführungszeichen zu setzen ist, weil hinter ihr oft das Verlangen nach mehr Demokratie steht. Hinter dieser Haltung steht das Verlangen, dass die Bürger endlich wieder einen Teil ihrer Souveränität zurückerhalten. Die traditionellen Linksparteien ignorieren das, um der Forderung auszuweichen, ihre bürokratischen Strukturen zu ändern. Sie imitieren leider in vieler Hinsicht auch die Rechte, werden personalistischer, immer TV-fixierter – und immer autoreferenzieller.

Als Heilmittel für die Demokratie setzen Sie auf soziale Bewegungen – warnen aber zugleich vor den so genannten identitären Bewegungen. Was haben Sie etwa gegen die Schwulenbewegung?

Gar nichts. Der Kampf für die Rechte von Minderheiten ist sakrosankt. Aber so notwendig diese Bewegungen sind, so zweischneidig sind sie – wenigstens dann, wenn sie den Übergang vom Kampf um ihre Rechte zur Verfechtung einer geschlossenen, abgeschotteten Identität machen.

Wer kann dann eine Revitalisierung der westlichen Demokratien bewirken?

Die Parteien bestimmt nicht: Sie sind Teil des Problems, nicht der Lösung. Aber in den letzten Jahren ist ein neuer Typ von Bewegungen entstanden – Bewegungen, die für universalistische Ziele kämpfen. Im Weltmaßstab haben wir das bei den No-Globals und bei der Antikriegsbewegung erlebt. In vielen Ländern sind Bewegungen entstanden, die nicht bloß eigene Interessen verfechten. In Italien haben wir die so genannten Girotondi erlebt: Sie kämpft für Ziele, die in der Verfassung garantiert sind und doch ausgehöhlt werden – die Autonomie der Justiz und den Pluralismus der Medien. Für diese Anliegen protestierten vor knapp zwei Jahren eine Million Menschen. Auch in Spanien haben in 20 verschiedenen Städten zehntausende Bürger binnen einer Nacht Proteste gegen die Lügen der Regierung organisiert. Diese Bewegung war sehr wirksam – und von einem universalistischen Prinzip, nicht von partikularen Interessen inspiriert. Hier sehen wir wenigstens embryonal das Potenzial der Zivilgesellschaft, in Selbstorganisation auf die Politik einzuwirken.

INTERVIEW: MICHAEL BRAUN