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11.00

Bin verdammt spät dran. War schnell noch in der Kantine im 6. Stock, wo die Mannschaft abgefüttert wird, der Edelfraß im 8. für die Auserwählten ist ja für einen wie mich, Leo Blume, Mitarbeiter im Apparat des ZK der SED, Abteilung Agitation und Propaganda, völlig unerreichbar. Während ich die fensterlosen, neonbeleuchteten Gänge mit dem ewig gleichen penetranten Reinigungsmittel-Gestank entlangjage, kommt mir zusätzlich noch die Traueransprache meines Chefs, des Genossen Joachim Herrmann, vom Vormittag hoch. Wie kämpferisch, wie hymnisch, vor allem wie mitfühlend, wenn man bedenkt, dass keiner dieser Ärsche, vom Politbüro bis zu den Abteilungsleitern, mit Ausnahme des Genossen Axen, es fertig gebracht hat, dem todkranken Genossen Albert auch nur einen Höflichkeitsbesuch abzustatten. War eben kaltgestellt. Auf dem X. Parteitag kam man nur allzu schell und allzu gern seiner Bitte um Ablösung von den Parteiämtern nach. Dabei wäre er gerne in den Parteistiefeln gestorben, als Mitglied der Zentrale, symbolisch. Norbert und Fritz, die ihm bis zum Tod zur Seite standen, haben mir das gesteckt. Und jetzt dieser Phrasenkopp Herrmann, dieses Natterngezücht aus dem Brutkasten der FDJ. Wie kämpferisch seine Rede, wie allseitig würdigend (wenn man von den vorgeschriebenen Auslassungen absieht). Wie abgrundtief verlogen!

Na endlich, Gott (falls es ihn gibt) sei Dank, der Paternoster. Seltsam, dass es ein solches Beförderungsmittel in der DDR noch gibt, noch dazu im Großen Haus, und das Schärfste – er funktioniert, von periodischen Ausfällen abgesehen. Einer für die Chefs, wie sich’s gehört, einer fürs Fußvolk. Also hinein, mit dem ewig gleichen, prickelnden Gefühl im Magen, ob man die Plattform noch erreicht, die sichere Grundlage. Eigentlich eine platte Karrieremetapher. Rauf und runter. Pater noster, qui es in coelo, wie ging’s noch mal gleich weiter? Für einen atheistischen Juden und Kommunisten wie mich kein Problem? Geheiligt sei Dein Name, Dein Wille geschehe, wie im Himmel also auch auf Erden. Kenn wa alles!

Jetzt zum Seiteneingang an der Oberwallstraße hinaus, vorbei am Konsultationszentrum, draußen wartet schon der Volvo, die Fahrbereitschaft. Was für ein Auto, unberührbar, unverletzlich, ein ehernes Gehäuse mit getönten Scheiben, ganz für uns gemacht und dabei noch ideologisch hinnehmbar, aus dem neutralen Schweden, unserem geheimen Sehnsuchtsland, wo sie das Volksheim der Werktätigen aufbauen, ganz so, wie Genosse Walter es „für unsere Menschen“ gewollt hat. Schöner unsere Städte und Gemeinden, schöner unser Volksheim, mach mit! Blumentöpfe auf der Mauer. Bloß nich.

Die drei Kollegen warten schon, Genosse Martin Kunning von meiner Abteilung, dann der Genosse Pauer, still und arbeitsam, und schließlich ein Parteiveteran, der darauf besteht, mit seinem alten, für Bündniszwecke ersonnenen Pseudonym Dedalus angesprochen zu werden. Dabei bräuchte er gar keinen Flugkörper, um unseren Staat zu verlassen. Er ist Rentner, aber er will überhaupt nicht in den Westen. Ihm gefällt es bei uns, hier kann er uns nach Herzenslust mit seinen immergleichen heroischen Epen piesacken. Ganz im Gegensatz zu seinem Luftikus von Sohn, diesem Pseudo-Schreiberling und Möchtegern-Dissidenten, der nur mit Rücksicht auf den Alten noch keinen Ausreiseantrag gestellt hat. Dabei ist in diesem Fall doch klar: Vor dem Vater stirbt der Sohn!

Die Wagenkolonne setzt sich in Bewegung, unser Volvo krächzt und schlingert. Dem Genossen Chauffeur, dieser Krücke, ist es im Subotnik-Einsatz bereits gelungen, durch systematisches untertouriges Fahren dieses Wunderwerk von Getriebe zu ruinieren. Etwas drückt in der Gesäßtasche meines schwarzen Anzugs, ach ja, das Stück West-Seife, hab ich heute Morgen im Intershop erworben, bezahlt von einer milden Gabe eines Zweigs meiner Familie, sie nennen sich jetzt Bloom, die auf dem Weg in die USA-Emigration in Irland hängen geblieben sind, wohnhaft in Dublin. So was von verboten, diese Geldannahme für einen Mitarbeiter des Großen Hauses, aber was tut man nicht alles, um Molly, der lieben Frau, zu Diensten zu sein. Sie muß gut riechen, schließlich ist sie im Show-Business der DDR tätig. Muss die Seife unbemerkt in der Jacke verstauen, ehe wir unser Ziel, den Sozialistenfriedhof in Lichtenberg, erreichen, wo Genosse Alberts Urne beigesetzt wird.

Schon sind wir auf der Leipziger Straße und passieren die Spreeschleuse, in die gerade ein vollgepackter Dampfer unserer Weißen Flotte einfährt. Neidvoller Seitenblick durch die getönten Scheiben. Jetzt ein Segeltörn mit Molly, der immer noch wohlgestalteten, ins Dahme-Seengebiet. Aber da führt kein Weg hin. Die Segelschiffe made in DDR, selbstverständlich aus Stahl gefertigt und absolut sinksicher, haben nur eine Auflage von 200 Stück erlebt. Und einen Abteilungsleiter mit Bootszugriff anhauen geht nicht. Keine Gegenleistung parat. Vielleicht den Genossen Herger fragen, den leutseligen, der manchmal in die 6.-Stock-Kantine kommt, um sich unters gemeine Volk zu mischen. Mal sehen.

Eben will Dedalus senior zu einer Geschichte anheben. Wie er nach der Demo vom 1. Mai 1929 als Inhaftierter im jetzt abgerissenen Polizeipräsidium am Alex dem SPD-Kommissar das Nötige über dessen verräterische Führung beigebogen hat. Aber schon sausen wir durch den Tunnel, sodass Dedalus nicht zu hören ist, um am Alex wieder aufzutauchen. Vorbei am Haus des Lehrers, einem eher geglückten Produkt des Genossen Henselmann, und hinein in die Karl-Marx-Allee und zum Strausberger Platz.

Welch seltsame Wege der Zeitgeschmack geht. Jahrzehntelang diese abgedroschenen Witze über den Zuckerbäcker-Klassizismus, und jetzt sind wir mit der Ex-Stalin-Allee plötzlich Avantgarde. Ganze Busladungen von Architekten aus dem Westen wallfahrten hierher und ergehen sich über die Postmoderne. Sollen es erst mal zum Postkapitalismus schaffen, diese Postlinken, dann können sie von Post- reden.

Am Straßenrand sehe ich eine Alte ihren Gehstock wütend gegen die Autokolonne schwingen. Wenn das nicht Oma Otti ist, diese notorische Antikommunistin aus dem „Feuermelder“, einer meiner bevorzugten Kneipen am Boxhagener Platz. Hat auch so einen missratenen Enkel und angehendes schriftstellerndes feindlich-subversives Element, den Torsten Schulz, wie mir aus einschlägigen Akten der befreundeten Behörde bekannt ist. Na ja, jetzt geht’s zügig weiter. Die Ampeln sind durchgängig auf Grün geschaltet. Genosse Albert kriegt zwar kein Staatsbegräbnis, aber für die Ampelschaltung reicht es noch.

Unaufhaltsam nähern wir uns dem U-Bahnhof Magdalenenstraße und damit dem allzu bekannten, acht Hektar umfassenden Areal zwischen Magdalenen-, Rusche- und Normannenstraße, wo sich der Eingang zu den tiefen Gründen befindet. Lasciate ogni Speranza, voi, che entrate summe ich vor mich hin, vorsichtshalber ohne Text und nach eigener Melodie frei nach Verdi, Mollys Lieblingskomponisten. Genosse Martin, der Ironiker vom Dienst, hat soeben die Litanei angestimmt „kein Westsender, keine Springerpresse, kein Geschenkpaket von drüben hat dem Ansehen des Sozialismus so geschadet wie die Propagandatätigkeit des Genossen Albert“. Jetzt verstummt er. Genosse Pauer bemerkt begütigend „de mortuis nihil nisi prius“. Wieso prius? Keine Ahnung, ach so, er meint, nicht vor Ablauf der Trauerzeit.

Die Normannenstraße, der alte, der sehr alte Schrecken. Fast hätten sie Genossen Albert am Arsch gepackt, damals, als Kandidaten ausgeguckt wurden für ein Schauprozess-Spektakel in der DDR nach dem Vorbild von Moskau und Prag. Genosse Albert war nicht nur West-Emigrant gewesen, nicht nur in New York (angeblich als Arbeiter) ansässig, er war vor 33 auch noch mit den notorischen Linksabweichlern Neumann und Remmele verbandelt, die es in der sowjetischen Emigration erwischt hat. Hat unter Aufsicht des Oberrenegaten Münzenberg das Braunbuch zum Reichstagsbrandprozess gebastelt, war enger Freund von Andre Simone, der, 1953 in Prag angeklagt, am Galgen endete. Verdammt schwerwiegendes Vorleben. Vor allem aber, er war Jude, ein Rabbinersohn, durch die Abstammung ein prädestiniertes Opfer. Hervorragend geeignet für ein „antizionistisches“ Reinigungsritual. Einer vom Stamm Reuben, ein Abkömmling des Judas.

Wie hat er es nur geschafft, davonzukommen? Nur weil Stalin rechtzeitig starb, oder war es die schützende Hand von Genossen Walter, der vor einem „antizionistischen“ Prozess zurückschreckte und lieber seinen alten Erzfeind, den „Arier“ Paul Merker, ins Loch steckte? Seltsame Konstruktion, Stimmt schon, Genosse Albert war und blieb der Lautsprecher von Genossen Walter, loyal bis zum Gehtnichmehr. Schließlich hat ihn Erich deswegen gleich mit abserviert.

Na schön, Kosmopolitismus konnte man dem Genossen Albert bestimmt nicht vorwerfen, patriotisch war er, hatte es mit der deutschen Nation. War wohl der Meinung, irgendwann käme das sozialistische Deutschland. Flausen. Damit hat Genosse Erich Schluss gemacht. Jetzt nur noch DDR. Vollendung und Vervollkommnung des ökonomischen Systems des Sozialismus. Idiotisch. Aber Genosse Albert hat bis zum Schluss mitgezogen. Eiserne Disziplin. Lieber mit der Partei irren als gegen sie Recht behalten. Stimmt ja schließlich auch.

Genosse Pauer, eher schweigsam, erzählt ganz gegen seine Gewohnheiten einen Witz: Ein Hase rennt wie besessen querfeldein. Was rennst du so, fragt ein zweiter Hase. Hast du nicht gehört, sie haben beschlossen, allen Hasen mit fünf Beinen eins abzuschneiden. Na und, du hast doch nur vier. Du kennst sie nicht, sagt der erste Hase, erst schneiden sie, dann zählen sie.

Jetzt biegt die Kolonne vor dem Bahnhof Lichtenberg am Reichsbahnhäuschen nach links ab und rattert über Pflastersteine auf das Areal des Sozialistenfriedhofs zu. Irgendwo links hier muss die Kneipe sein, wo es Bockwürste gibt, aus denen beim Reinpieken das Wasser einen halben Meter hochspritzt, sowie quadratische Buletten in drei Geschmacksrichtungen (Curry, Paprika und Natur) samt trinkbarem Bier. Beliebtes Anlaufziel nach den jährlichen Januar-Manifestationen für Rosa und Karl, wenn sich der Block unserer Grundorganisation aufgelöst hat und alles regellos nach Hause strebt. Jetzt aber heißt es, in geordneten Reihen Aufstellung zu nehmen und würdig an der Zeremonie teilzuhaben.

Hinter der zentralen Grabstätte für die kommunistischen Märtyrer zuzüglich einiger korrekter, weil bündnistreuer sozialdemokratischer Genossen das Halbrund der Gräber. Links die alten Sozialdemokraten einschließlich der notorischen Revisionisten, konnte man schließlich nicht beiseite schaffen, wo wir doch die Einheitspartei sind. Rechts unsere Leute. Hier soll Alberts Urne beigesetzt werden und hier soll er seine Tafel kriegen.

Könnte ihm eigentlich egal sein, dem Genossen Albert, wo seine Asche vor sich hinmodert, wär’s ihm aber nicht gewesen. „Eingeschreint in die Herzen der Arbeiterklasse“, kurios diese Idee, stammt aber vom Altmeister persönlich. Außerdem war Genosse Albert nicht nur gebildet, war Professor, konnte mit historischen Dokumenten umgehen wie kaum einer, was die Nazis im Westen nach 45 zu spüren bekamen. Er hat außerdem schreinern gelernt, der Satz hätte ihm also gefallen.

Einer vom „ND“ flüstert mir ins Ohr: Wer ist übrigens der Kerl dort in dem feinen Macintosh, scheint nicht zu uns zu gehören? Das ist so einer von drüben, einer, der die DKP umschleicht, antworte ich wohlinformiert, glaube, er heißt Uwe Timm. Übt sich jetzt als Leichenredner, ist also hier aus professionellen wie ideologischen Gründen. Reine Zeitverschwendung, murmelt der Kerl mit branchenüblichem Zynismus und setzt wieder die obligate Trauermiene auf. Die Trauerreden hat er sowieso schon in der Tasche. Hinter dem Gräber-Halbrund, fast verdeckt, völlig überflüssigerweise mit einer Tarnungs-Sonnenbrille angetan, der Genosse Mischa. Auch so einer von den ganz stillen Kritikern. Hatte es auf Molly abgesehen. Hat ihr um zwei Ecken zukommen lassen, er verstünde nicht, wie sie sich mit einer solchen mediokren Figur wie mir eingelassen hatte. Hat mir Molly gebeichtet, obwohl zum Stillschweigen verpflichtet. Wird wohl nichts werden mit einer West-Tournee.

Von vorn tönt es weiterhin erhaben. Wer wird sich in zwanzig Jahren schon an Genossen Albert erinnern, bohrt es in meinem Kopf. Gut, an der Staatsoper ist ein Schild befestigt mit einer Sentenz von ihm, aber hängt das noch 2002? Die Broschüren, die Bücher, diese ganze Arbeit, den nazistischen Augiasstall auszumisten, wen wird das noch interessieren, wenn nur noch vom „Jahrhundert der Barbarei“ die Rede ist? Außerdem dieser schematische Stil und dieses penetrante „Ich bin der Lehrer, Ihr habt zuzuhören“-Gehabe, dieser rechthaberische Marxismus-Pädagogismus, den ich selbst Tag für Tag abspule …

Vielleicht sollte man es hier am Sozialistenfriedhof mit einer kleinen, in die Grabtafel eingebauten Tonband-Einrichtung versuchen. Wir kommen vorbei, drücken auf den Knopf und hören Genossen Alberts Stimme, vielleicht noch mit einer Steuerungseinrichtung, für Lautstärke und Auswahl der Bänder. Das wäre eine Aufgabe für Robotron, aber die sind ja notorisch schwach auf dem Gebiet der Mikroelektronik. Muss immer alles supergroß sein und superschwer.

Ende der Feier, Absingen der Internationale, alles strömt zu den Dienstwagen. Im Geleitzug Genosse Kurt, der Ideologie-Gewaltige, sein Hut ist völlig verbeult, hat wohl aus Versehen auf ihm gesessen. Ich deute diskret im Vorübergehen in Richtung seines Glatzkopfs, er missversteht zuerst die Geste, bemerkt dann aber die Beule und bedankt sich leutselig in schwäbischer Mundart. Ich lass mich auf den Vordersitz des Volvo plumpsen. Alles voller Krümel. Muss mal ein Wörtchen mit dem Chauffeur reden. Vielleicht besser doch nicht. Weiß der Teufel, zu was der noch mal gut sein kann.

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