Die geheime Kammer

Ein Allgäuer Bauer fährt als Kapitän zur Südsee und bringt einen Schatz heim

Den Ort zu verraten, ist ein Tabu, und der Bruch eines Tabus endet meist tödlich

Noch mindestens drei Jahre lang wird ein altes Haus in der 6.400-Einwohner-Gemeinde Obergünzburg ein Geheimnis bergen, von dem nur wenige wissen. Im obersten Stockwerk lagert in langen Holzkisten, in klimatisierten Behältern und in feuersicheren Blechschränken ein 1.600 Exponate umfassender Südsee-Schatz. Es ist das Vermächtnis des hier geborenen Kapitäns Karl Nauer (1874–1962).

Erst nach einigem Drängen ist Museumsleiter Karl Fleschutz, der Hüter des Nauer’schen Schatzes, bereit, den Wahrheit-Reporter ins Obergeschoss des alten Gebäudes zu führen. Er sagt: „Sie wissen, diesen Ort zu verraten, ist ein Tabu, und der Bruch eines Tabus endet meist tödlich!“ Eine leicht ironische Anspielung auf die Reliquien der Kannibalen, die oben im Dachgeschoss lagern. Doch es ist viel mehr, was sich hier auf einer ganzen Etage an Sammlerstücken findet. Museumschef Fleschutz erzählt eine ungewöhnliche Geschichte.

Schon als kleiner Bub habe Karl Nauer den Entschluss gefasst, zur See zu fahren. Alles andere als eine Selbstverständlichkeit für einen Allgäuer Bauernjungen. „Als er mit seinem Vater einmal am Bodensee war, hat er einen Dampfer in den Hafen einfahren sehen und seither hat ihn der Gedanke an die Schifffahrt nicht mehr losgelassen.“

Auf einem Dreimaster segelte der junge Karl Nauer über die Weltmeere. Schon mit 25 Jahren hatte er das Kapitänspatent erworben und fuhr für den Norddeutschen Lloyd zehn Jahre lang Liniendienst in der Südsee. Den Ersten Weltkrieg verbrachte er in einem U-Boot. Bevor er jedoch nach dem Krieg wieder eine Anstellung als Kapitän auf dem Dampfer „Sierra Nevada“ fand, musste er als Landwirt im Allgäu eine Art ungeliebtes Übergangsdasein fristen.

Es hielt den Seemann aber nicht lange auf dem Allgäuer Bauernhof, und als er schließlich in der Südsee wieder Liniendienst, zunächst als 1. Offizier, dann als Kapitän, versah, begann der eigentliche Sammlerdrang. Kunsthandwerkliche Arbeiten der Eingeborenen sammelte er und naturkundliches Anschauungsmaterial, wertvolle Skulpturen darunter. Im Jahr 1913 übergab er diese ethnografische Sammlung seiner Marktgemeinde, die ihm daraufhin die Ehrenbürgerwürde verlieh.

Auf dem Dachboden der Mädchenschule von Obergünzburg wurde diese Sammlung ausgestellt, später dann im Pfarrstadel des Dorfes. Seit 1996 schlummert sie im Geheimdepot, nachdem der Pfarrstadel sich mehr und mehr neigt und nicht mehr als sicherer Aufbewahrungsort gilt.

Der Dornröschenschlaf des Nauer’schen Südseeschatzes wird noch bis 2007 dauern. Dann sollen die wertvollen Exponate in ein bis dahin eigens erbautes Südsee-Museum verbracht und dort wieder der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Unauffällig nach außen ist das „Zwischenlager“, also das Gebäude mit dem Südseeschatz, mit Alarmanlagen und Stahltüren gesichert. „Wenn sie bedenken, dass von den 1.600 Exponaten so manches Einzelstück eine sechsstellige Summe bringen würde, verstehen sie sicher, dass wir gehörig aufpassen müssen“, erläutert der Sammler Fleschutz und steigt Stufe um Stufe hoch, bis wir vor der letzten Türe mit der Aufschrift „Zutritt verboten!“ stehen.

Dahinter liegt ein auf den ersten Blick nüchterner Raum mit Stahlschränken, langen Holzkisten auf dem Boden und vielen Regalen. „Das hier ist ein Königsspeer, umwickelt mit Bananenblattfasern und Orchideenblattfasern. Aber Vorsicht! Die Rochenstacheln sind giftig!“ Und das ist kein Spaß. Der ein oder andere Vorgänger des ehrenamtlichen Museumsmannes hat sich daran schon verletzt, einer lag sogar schon mit Blutvergiftung im Krankenhaus. Karl Fleschutz öffnet einen Metallschrank nach dem anderen, lässt sogar in die klimatisierten Kisten blicken mit den wertvollsten Sammlerstücken – kunstvoll gestalteten Masken, die bei den Kannibalen bei Totenritualen oder Mannbarkeitsfesten getragen wurden. In den Schränken weitere, kleinere Masken, filigraner Schmuck, ein Brustamulett aus Wildschweinzähnen, ein Tanzgurt, aber auch kleinere Pfeile und Waffen, mehrere Totenköpfe sowie Dolche aus Menschenknochen. „Diese Waffen wurden aus den Knochen der getöteten Gegner gefertigt“, erklärt der Museumsleiter und hantiert damit, als hielte er eine alte Messingklinge in der Hand.

Seine Sammlerleidenschaft brachte Kapitän Nauer viele interessante Begegnungen ein. „Einmal, schreibt er, sei er bei Menschenfressern zum Festmahl eingeladen gewesen. Er habe sich der für ihn abscheulichen Einladung nur durch einen Trick entziehen können“, berichtet der Schatzbewahrer von Obergünzburg. „Er hat gesagt, als Kapitän dürfe er keine Geschenke annehmen, und eine Einladung zu einem opulenten Mahl sei nun mal ein Geschenk, das er leider ausschlagen müsse.“

Sorgfältig packt Karl Fleschutz die Ausstellungsstücke wieder in die Kisten und Schränke. „Und so was schlummert hier auf einem Dachboden vor sich hin“, meint er bedauernd. Bis zum Jahr 2007 und zur Einweihung des Allgäuer Südsee-Museums ist es leider noch lange hin.

KLAUS WITTMANN