Ab zum Rhön-Putsch!

„Die Agronauten“ fragen: Sind Sie bereit fürs Land? Heute: Kultur gegen Landflucht

Die Entvölkerung des ländlichen Raumes hält mangels Arbeits- und Ausbildungsplätzen an. Spätestens zwei Jahre nach Schulabschluss ziehen die meisten jungen Leute weg, insbesondere in Ostdeutschland, wo vor allem die Mädchen „landflüchtig“ sind. Anfang der Siebzigerjahre war das zumindest im Westen noch ganz anders: Da entstanden überall Landkommunen. Für die alteingesessenen Dörfler war deren Lebensweise zwar gewöhnungsbedürftig, aber sie freuten sich dennoch über diesen überraschenden Zuzug junger Leute. Die Landkommunarden schufen für sich selbst Arbeitsplätze. Daneben entstanden hier und da auch noch weitere: im hessischen Vogelsberg, wo es bald eine Kneipe, ein Café und etliche Spontan-„Projekte“ gab.

Anders verlief die Entwicklung im hohenlohischen Weikersheim, wo sich 1971 ein Kulturverein gründete, der den bis heute aktiven „club w 71“ betreibt, um den sich immer noch eine große linke Szene scharrt. In der veröffentlichten Chronik ihrer Aktivitäten (Rock, Pop, Punk, Lesungen, Filme, Diskussionen etc.) spiegeln sich die Entwicklungen und Spaltungen der BRD-Linken in den letzten 34 Jahren wider. Weil ihre kleine Hütte am Sportplatz nur maximal 100 Leute fasst, konnten sie sich nie „Stars“ leisten, aber sie machten aus der Not eine Tugend, indem sie kommende Entwicklungen erahnten und auf diese Weise viele Künstler einluden, bevor sie berühmt und damit zu teuer wurden.

Ende der Neunzigerjahre schossen in der Region überall „Kulturinitiativen“, oftmals von den Kommunen gefördert, aus dem Boden, aber diese wenig organisch gewachsenen „Events“ waren „ziemlich armselig“ und verkümmerten sofort wieder, wenn die „Staatsknete“ ausblieb. Der „club w 71“, der lange Zeit von der Weinbäuerin Elsbeth Schmidt geleitet wurde, dürfte mittlerweile eine der interessantesten und klügsten linken Institutionen in der BRD sein; dennoch schaffte auch er es nicht, die Abwanderung junger Leute aus der Region aufzuhalten. Es ist eher eine Selbstbildungseinrichtung.

Anders dagegen die ebenfalls in den 70er-Jahren entstandene Minisiedlung Graf (Gruppe Rosenwinkel Ausbau Fünf) in der Prignitz, die gerade ihr jährliches Sommerfest, verbunden mit einer „Bauernolympiade“, feierte. Im Dorf gibt es daneben noch eine famose Kneipe namens „Maikel’s Taverne“, in der sich Projektemacher aus der ganzen Gegend treffen. In ihren Gesprächen geht es um Nachbarschaftshilfe, Arbeitsplätze und Geschäftsideen, nicht selten erneuerbare Energiequellen betreffend: In der Prignitz stehen inzwischen europaweit die meisten solcher Anlagen. Kürzlich gründete sich nahebei – in Wittstock – auch noch eine Initiative, die mit ihren Musikveranstaltungen ausdrücklich der Abwanderung junger Leute wenigstens kulturell etwas entgegensetzen will.

Ähnlich sieht es in der sächsischen Gemeinde Rietschen aus, wo die Dorfpunks dank des Pfarrers und des Bürgermeisters eine leer stehende Fabrik – „Kommärzbanck“ genannt – zwecks Nutzung zugeschanzt bekamen. Sie hat sich inzwischen zu einem der wichtigsten deutschen Punkzentren entwickelt. Zum größten „Heavy Metal“-Festival weltweit hat sich derweil die Open-Air-Veranstaltung von zwei Jungbauern im schleswig-holsteinischen Wacken entwickelt. Sie arbeiten neuerdings bei ihrem jährlichen „Metal-Battle“ mit der „britischen Amp-Schmiede ‚Mar- shall‘ “ zusammen.

Einen ähnlich langen Atem beweist auch der alle zwei Jahre stattfindende „Rhön-Putsch“ auf einer Jungviehweide nahe dem bayrischen Ort Ostheim, der von dem dort lebenden Dichter und Behindertenpädagogen Peter Engstler organisiert wird. Engstler betreibt dort noch einen Verlag und einen Buchladen, der nur freitags geöffnet hat, wo aber auch Lesungen stattfinden. Sein „Rhön-Putsch“ ist ein dreitägiger Lesemarathon, bei dem die Vortragenden von überall her kommen, die Gäste jedoch meist aus der Umgebung. Hier wird die Beatnik-Tradition hochgehalten.

Nebenan, in der thüringischen Rhön auf der Hohen Löhr, ging es dagegen heuer um die ewigen Hippiewerte: Die etwa 900 Leute umfassende „Rainbow-Family“ versammelte sich dort vier Wochen lang – ungenehmigt – zu ihrem alljährlichen großen europäischen „Gathering“. HELMUT HÖGE