Mäuse und Maurer im Operationssaal

■ Veraltete Einrichtungen und schlecht bezahltes Personal machen die Gesundheitsversorgung in Italien zur Katastrophe / Die Regionalisierung des Gesundheitswesens Mitte der siebziger Jahre hat Probleme nur verschlimmert

Von Werner Raith

Das erste, was Sandro Salvadori nach seinem Unfall bemerkte, war „ein schrecklicher Schmerz und eine Hitze im Kopf, die ihn fast zerspringen ließ“. Kein Wunder: die Hitze kam von der Sonne, die prall auf seine schwere Gehirnerschütterung schien; ärztlicherseits eine Todsünde. Sandro lag, als er aufwachte, im Krankenhaus von Terracina südlich von Rom, neben fünfzehn anderen Patienten in einem Raum, wo trotz sommerlicher Hitze Wasser von der Decke tropft, die Farbe abblättert und auch auf lautes Rufen kaum mal eine Krankenschwester kommt. Auch auf dem Flur finde ich, als ich Sandro besuche, Betten mit stöhnenden Patienten: die meisten werden von Verwandten gepflegt. Das Krankenhaus ist ein Bau aus dem 17. Jahrhundert, völlig unzureichend, und daher hat die Stadt - deren normal 30.000 Einwohner im Sommer durch Urlaubsgäste auf 250.000 anschwellen - ein neues Hospital zugesprochen bekommen. Das aber steht als Gerippe, wie ein Parkhaus in der Gegend, weil Kommune und Baufirmen sich seit mehr als fünf Jahren über den Preis streiten: inzwischen verfällt der Bau, die sanitären Anlagen sind allesamt geklaut. Terracina steht nicht alleine - überall sind Hospitäler geplant, aber blockiert oder so unzureichend ausgestattet, daß nach we nigen Wochen alles zusammenbricht. Also sind die meisten Italiener auf ihre bisherigen Einrichtungen angewiesen. Im Hospital San Martino in Genua z.B. stellte eine Kommission Mäuse nicht nur in der Küche, sondern auch im Operationstrakt fest: dort wurden sogar während der Operationen Maurerarbeiten ausgeführt. In San Giovani in Rom wurde die Küche wegen Verdreckung und Wanzenbefall völlig geschlossen. „Die sollen sich nicht so aufregen“, knurrt mich ein Hospitalsprecher an, als ich telefonisch nachfrage, „gestorben ist deshalb noch niemand“. Zynismus, den Experten darauf zurückführen, daß das Personal so schlecht bezahlt ist, wie nirgendwo sonst in Europa - ein Chefarzt bekommt umgerechnet an die 4.000 Mark, ein Assistenzarzt an die 2.000 Mark, eine Krankenschwester oft unter 1.000 Mark. Doch in Wirklichkeit ist das Desaster vor allem ein schönes Lehrbeispiel dafür, wie man mit vielen isolierten Einzelreformen ein Gesamtsystem umbringen kann. „Mitte der siebziger Jahre“, berichtet der römische Amtsrichter Gianfranco Amendola, einer der profiliertesten Vorkämpfer für Umwelt– und Gesundheitsfragen, „wurden die veralteten Einrichtungen - zu Recht - aufgelöst: aber die neuen wurden so inkonsequent geplant, daß sie keinerlei Ersatz bildeten“. Die damaligen Reformen sollten der Dezentralisierung und Lokal– Organisation des Gesundheitswesens dienen: jeder Ort, oder, wo dieser zu klein ist, ein Verbund benachbarter Orte, sollte seine „Unita sanitaria locale“ (USL) bekommen, ein Zentrum, an das sich jeder wenden kann, wo er Rat in medizinischen, psychologischen, ja sogar sozialen Fragen bekommt, wo rund um die Uhr Ärzte, Psychiater, Sozialarbeiter und Krankenschwestern einsatzbereit sind. Doch mit der „Reform auf einen Schlag“ überhoben sich die Italiener gewaltig - nicht nur wegen Geldmangels (der so gravierend gar nicht war), sondern weil man bei alledem die praktische Ausführung den Regionalverwaltungen und den Kommunen überlassen mußte, die darauf überhaupt nicht eingerichtet waren. Viele Bürgermeister und Rathausfraktionen sahen die Umstrukturierung eher als Gelegenheit an, Parteimitglieder mit einträglichen Posten zu bedienen oder das einfließende Geld anderweitig zu verwenden. In der Provinzhauptstadt Latina stellte z.B. der Oberste Rechnungshof fest, daß ein Großteil der Gelder der USL zum Sponsern einer Fußballmannschaft diente. Kein Wunder, daß dann nichts klappt, wenn Not am Mann ist. Im Ferienmonat August stellten Fahnder sogar in überfüllten Urlaubsorten zeitweise das Fehlen von mehr als 90 Prozent des Personals fest; in Civitavecchia steht eine ganze Belegschaft vor Gericht, weil ein Patient mit einem Kieferneiterdurchbruch wegen mangelndem Bereitschaftsdienst beinahe gestorben wäre. Doch selbst wenn alles „klappt“, ist vom Ausbruch einer Krankheit bis zur Behandlung für Italiener ein weiter Weg. „Zuerst“, erklärt mir Gianna von der USL in Mailand, „muß man sich ein Formular für die Einzahlung von 2.000 Lire (ca. 2,80 DM) besorgen und das Geld zur Post bringen.“ Arbeiter und Angestellte müssen sich dazu erstmal freigeben lassen. „Dann gehts zur USL“, was oft eine Wartezeit von zwei oder drei Stunden bedeutet. Dann, beim Arzt, wieder eine halbe Stunde Wartezeit, denn die meisten machen telefonisch keine Termine aus. „Leider gibt es Ärzte, die ihre Termine schon für ein halbes Jahr ausgebucht haben“ - wohl dem, der sich seine Krankheiten einteilen kann. Sonst hilft nur eines: sich als Privatpatient anstellen - „da geht es“, wie die Gewerkschaft UIL vor einigen Monaten in einer Untersuchung festgestellt hat - „in über 70 Prozent aller Fälle von einem Tag auf den anderen“. „Oder, so hat Sandro Salvadori bei seinem Unfallaufenthalt im Krankenhaus von Terracina festgestellt, „man muß Ausländer sein - die werden sofort und ohne Bürokratie behandelt“. Nicht etwa aus Ausländerfreundlichkeit - sondern weil die Abrechnung gegenüber deren Ländern in der Regel das Dreifache eines italienischen Krankenfalls einbringt.