Ein Deutscher Sommer

■ Über die hysterische Reaktion auf eine hochgespielte Fiktion

Ein Deutscher Sommer? Was ist das Charakteristische eines Deutschen Sommers? Jeder, dem es nicht für mindestens sechs Wochen vergönnt ist, das Weite zu suchen, kann sein Leid über ihn klagen. Kaum ist das nächste Wochenende fest im Freibad eingeplant, zeigt der TV–Mann vor der Wetterkarte auf ein herandräuendes Azorentief und prophezeit mit berechnender Unbestimmtheit „wechselnde Bewölkung, teilweise Aufklärung, vermischt mit leichter Schauerneigung“. Mit einem Satz, auf den Deutschen Sommer ist kein Verlaß. Man könnte das mit einem Achselzucken abtun, wäre da nicht die von Marx dem Idealismus endgültig abgetrotzte Erkenntnis: Das Sein bestimmt das Bewußtsein. Niemand wird abstreiten, daß das Wetter in seiner Bedeutung als konstitutives Moment des Seins mit der Arbeit–Kapital–Beziehung durchaus konkurrieren kann. Daraus folgen zwingend Konsequenzen für das Bewußtsein der in den jeweiligen Breiten Angesiedelten. Sowenig bestimmt wie der Deutsche Sommer ist des Deutschen Selbstbewußtsein. Bereits der demagogische Verweis auf die „Fluten“ aus der Dritten Welt, die uns demnächst „überschwemmen“ werden, genügt, um es nachhaltig zu erschüttern. Versetzen wir uns für einen Moment in die Situation eines Glücklichen, dem es gelang, der Niederlassung BRD in den letzten drei Monaten den Rücken zu kehren. Der Mensch kommt zurück und findet anscheinend alles wieder vor, wie er es verlassen hat. Das Wetter am Flughafen ist diesig, der Taxifahrer verschlossen und die Wohnung leer und unversehrt. Der Mensch muß blind sein. Sieht er nicht, daß er in ein Land zurückkehrt, welches gerade von einer Flut überschwemmt wurde, ein Land, in dem alle Dämme gebrochen sind und in dem verzweifelt um das ethnische Überleben gekämpft wird. Er sieht es nicht, hat stattdessen aber große Schwierigkeiten, der von ihm so geschätzten Tagesschau zu folgen. Er versteht nicht, was die vielen dicken Pfeile auf dem Globus sollen, die alle auf die Bundesrepublik weisen. Es bleibt ihm unklar, warum die Nachrichten nur en passent erwähnen, daß wieder mal ein Anschlag auf ein sogenanntes „Asylantenheim“ stattgefunden hat. Leicht verwirrt, möchte der eben noch so unbeschwert Glückliche wissen, was los ist. Er lenkt seinen Schritt in eine Bibliothek, um die Zeitungen der letzten drei Monate zu studieren. Das anfängliche Unverständnis weicht einer zunehmenden Erregung, die schließlich einem Anflug von Panik Platz macht. Der Mensch stürzt auf die Straße und hastet in Richtung seiner Unterkunft. Versehentlich rempelt er einen Passanten an, dreht sich um, die Entschuldigung schon auf den Lippen - und verharrt starr vor Schreck: Sein Gegenüber ist schwarz. Entnervt eilt er seinem Zuhause zu, um mit grenzenloser Erleichterung festzustellen: Seine Wohnung ist immer noch nicht von Asylanten besetzt. Noch Stunden ringt er um seine Fassung, der Mensch ist destabilisiert. Tage braucht er, bis er den Mut findet, seine Wohnung wieder zu verlassen und erst ganz allmählich erinnert er sich dunkel, schon vor seiner Abreise in seinem Viertel einen Farbigen gesehen zu haben, ohne daß es ihm weiter aufgefallen wäre. Glücklicherweise erwischt er an diesem Abend in der Tagesschau Kanzler Kohl, der ihm eindrücklich versichert, die Regierung hätte nun die Mittel gegen die Flut gefunden und werde dem Alptraum in Kürze ein Ende bereiten. Hysterie als kollektive Reaktion auf eine Fiktion? Franz–Josef Strauß ging vor wenigen Wochen mit der These hausieren, die DDR schleuse die Flüchtlinge gezielt über Ost–Berlin in den Westen, um die Bundesrepublik zu destabilisieren. Offenbar bedarf es wenig, um die bundesdeutsche Identität, die Stabilität dieser Republik zu untergraben. Wie wenige es tatsächlich bedarf, um dem Lack der bundesdeutschen Demokratie tiefe Kratzer beizubringen, hat der Deutsche Herbst 1977 gezeigt. Eine Flut repressiver Gesetze war die Antwort auf den Ruf nach dem starken Mann. Der Deutsche Sommer 1986 läßt ähnliche Mechanismen erkennen. Wieder wird Hysterie zum Politikum, wieder wird am Ende ein Weniger an Demokratie stehen. Gerade angesichts des bevorstehenden Wahlkampfes, wird es Zeit zu erkennen, daß wir heute sowenig ein Flüchtlingsproblem haben, wie es 1977 ein Terrorismusproblem gab. Das Problem ist der deutsche Umgang mit zur Bedrohung hochgespielten Fiktionen. Das dies möglich ist, läßt tatsächlich um die Stabilität dieser Republik fürchten. Jürgen Gottschlich