Jeder Ruck ein Wolluststoß

■ Viel Sex auf der Leinwand und viel Gedränge in den Gassen: Nach fünf Tagen verändert sich allmählich die Wahrnehmung unseres Korrespondenten / Venedig, mit den Augen des Filmkritikers

Aus Venedig Arno Widmann

Seit zehn Tagen bin ich jetzt in Venedig wir merkens schmerzlich, lieber arno! d.sin. In meinen Pausen sitze ich auf der Terrasse des Hotels und mache das, was ich im Kino auch mache: Ich sehe mir Leute an. Die blondhäutige - kann man das sagen? - Fernsehjournalistin, die sich für einen Zweiminutenspot eine halbe Stunde lang mit dem Kameramann besprechen muß, wegen der Lichtverhältnisse. Sie kämpft tapfer um ein wenig Zeit, um sich noch auf das Gespräch vorbereiten zu können. Unter dem zart auf die Wangen gelegten Rouge kommt ein helleres, hektisches Rot auf, sie ist aufgeregt. Bei soviel Kino fange ich schon an, wie eine Kamera zu sehen. Fast nur noch Großaufnahmen. Und bei soviel Sex auf der Leinwand, bei gleichzeitiger mönchischer Enthaltsamkeit, wächst der Appetit der kurzsichtigen Augen. Zum Beispiel die Pressekonferenzen. Da sitzen oben die Schönen (die Schauspielerinnen), die Klugen (die Regisseure) und die Reichen (die Produzenten). Manchmal kommt es auch vor, daß der Produzent schöner ist als die Schauspielerin, fast nie sieht man eine Produzentin und höchst selten eine Regisseurin. Der Sexismus der Wirklichkeit bleibt nach einer Woche nicht ohne Folgen für die Phantasie. Als zum Beispiel gestern vier Männer oben saßen und „about last night“ von Edward Zwick vorstellten, war für mich nach wenigen Minuten der Eindruck entstanden: Regisseur, Produzent und Jim Belushi präsentierten ihren Liebling Rob Lowe. Sie priesen ihn als hübschesten Guy, nachdem alle Girls sich die Finger leckten und doch schien klar, daß sie in ihn verschossen waren. Ich mag den Film. Ihn als Schwulenstück zu lesen, habe ich erst nach der Pressekonferenz verstanden. Die Sexualisierung meiner Wahrnehmung hat möglicherweise nicht nur mit den Filmfestspielen zu tun. Heinse, der „Ardinghello–Heinse“, notierte in seinen Tagebüchern über Venedig: „Die Straßen sind oft so eng, daß kaum eine Person durch kann, und wenn Mann und Weib sich einander begegnen, so müssen sie sich mit den Rücken nach den Mauern und vorn aneinander drücken, bis jedes vorbei ist.“ Was Heinse über die Gondeln schreibt, kann ich leider nicht nachprüfen, dazu reicht mein Etat nicht: . . . einen weichen Polster für den Hintern, der den Wollusttheilen völligen Raum und alle Freyheit läßt, und zwey Bänke daneben, die Beine darauf auszubreiten. Jeder Ruck des Gondelführers mit dem Ruder ist ein Wolluststoß.“