„Wir haben eine historische Chance verpaßt“

■ Die britischen Gewerkschafter konnten sich nicht auf den sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie einigen Der Kompromißvorschlag verbindet die Forderung nach einem Moratorium mit einer energiepolitischen Bestandsaufnahme

Aus Brighton Rolf Paasch

Auf der Herrentoilette des Kongreßzentrums im englischen Seebad Brighton herrscht Hochbetrieb. „Hast Du Neils Rede gehört“, fragt mich mein sich entleerender Nachbar. „Good stuff, meinste nich?“ Die Rede, die Ken Norman von der Ingenieursgewerkschaft meinte, war die von Oppositionsführer Neil Kinnock. Der hatte gerade den 1.100 Delegierten des 118. Jahreskongresses der britischen Gewerkschaften 40 Minuten lang erzählt, was sie nach sieben mageren Thatcher–Jahren unter der Herrschaft der Labour Party zu erwarten hätten: alles andere, nur nicht sieben fette Jahre. Der erste Anwärter auf das Amt des Premierministers bei den voraussichtlich im nächsten Jahr stattfindenden Wahlen erlaubte sich gar den abgedroschenen Nachkriegsslogan vom Mangel an „einfachen Lösungen“. Dafür erhielt er stehende Ovationen. So haben sich die Zeiten geändert. Der „neue Realismus“, schon 1983 vom damaligen Gewerkschafts– Chef Len Murray beschworen, wurde von den versammelten Vertretern der britischen Arbeiterbewegung diesmal ohne Murren geschluckt. Vergessen war die militante Solidaritätseuphorie während des Bergarbeiterstreiks 1984, vergessen auch die Selbstzerfleischung über Staatsknete für die von den Tories verschriebenen Abstim mungen auf dem letztjährigen Kongress. Nach dem Verlust von über 2,5 Millionen Mitgliedern und den traumatischen Erfahrungen der siebenjährigen Thatcher– Herrschaft übten sich die Delegierten in diesem Jahr in der Kunst des Möglichen und der Anpassung. So erfüllte die versammelte „working class“ gleich zu Beginn ihres fünftägigen Jahreskongresses das Hauptanliegen der an die Macht gewünschten Labour–Führung. Gestreikt werden soll in Zukunft nur noch nach vorhergehenden Abstimmungen. Was sich für Kontinentaleuropäer wie eine Selbstverständlichkeit gewerkschaftlicher Demokratie anhört, hat für die harte Linke auf der Insel immer noch den abstoßenden Geruch von Staatseingriffen in den traditionell autonomen Bereich industrieller Beziehungen. So stimmte Arthur Scargill, verblaßter Held der Gewerkschaftstraditionalisten, für die die gehobenen Hände von Streikaktivisten auf dem Fabrikhof schon als Mandat für einen schlecht vorbereiteten Angriff aufs Kapital ausreichten, gegen die Abstimmungspflicht. Doch registriert wurde dies kaum noch. Aber auch die Gewerkschaftsrechte, allen voran Elektrikerchef Eric Hammond (dessen Gewerkschafter weiterhin die aus dem Kongreßzentrum verbannte Streikbrecherausgabe der Times produzieren), mußte Federn lassen. Während seine 250.000 Nutznießer von Maggies High Tech–Träumen alles daran setzten, ihre Löhne abzusichern, beschloß der Kongreß wahrhaft Revolutionäres: ein gesetzlich garantiertes Mindesteinkommen. Während die Arbeiteraristokratie das Mindesteinkommen als ersten Schritt zu einer dirigistischen Einkommenspolitik verteufelte, machte die Kongreßmehrheit nach jahrelangen Versprechungen nun Ernst mit der Umverteilung; auch wenn dies in erster Linie den unorganisierten Teilzeitbeschäftigten zugute kommen wird. Endlich, so kommentierte die feministische Journalistin Beatrix Campbell die „historische Entscheidung“, werde mit dem Mythos aufgeräumt, die weißen, qualifizierten Männer könnten die Löhne aushandeln, und für den Rest werde schon genug abfallen. Die denkwürdige Entscheidung des Kongresses, sich auch einmal der acht Millionen Kleinverdiener anzunehmen, sorgte bei den allabendlichen Trinkgelagen für reichlichen Gesprächsstoff. Da diskutierten Delegierte der Ingenieursgewerkschaft mit den Vertreterinnen der unterbezahlten Angestellten im staatlichen Gesundheitssystem über Mindesteinkommen versus Lohnbeschränkung. Erst nachdem genügend Bier auf die Interessenkonflikte geschüttet war, konnte man sich auf einen gemeinsamen Nenner einigen: „Hauptsache, Labour kommt an die Macht“. Für heftige Debatten sorgten auch die besorgten Anträge zur Zukunft der Atomenergie. „Du weißt doch“, erklärte Greenpeace–Chef George Pritchard einem der Arbeiter aus der Atomindustrie, „daß wir nicht noch mal 12 Monate warten können, bis wir mit dem Ausstieg beginnen“. Genau das, nämlich einen weiteren Bericht über die Zukunft der Atomindustrie hatte der Gewerkschaftsvorstand seinen Delegierten ans Herz gelegt. Den Seeleuten, die sich seit zwei Jahren weigern, den Atommüll ins Meer zu kippen, den Feuerwehrleuten, die als erste verstrahlt würden und den Bergleuten, deren Industrie von einem Stopp des Atomprogramms als erste profitieren würden, ihnen allen war dies nicht genug. Sie wollten dem Vorstand der Labour Party folgen, der sich gerade für einen sofortigen Stopp des Atomprogramms und den langsamen Ausstieg über mehrere Dekaden ausgesprochen hatte. So ging es am Donnerstag dann doch noch einmal heiß her, als die pro– und anti–nuklearen Lobbys bei der wohl wichtigsten Debatte der Woche aufeinandertrafen. Schon draußen am Eingang machte eine schreiende Meute von Bauarbeitern deutlich, daß sie die Aufträge der Atomindustrie den Versprechungen alternativer Arbeitsplätze vorzogen. Auch in der Debatte ging es neben Sicherheit der Industrie vor allem um Jobs: „Jobs, um die wir bis zum letzten Mann kämpfen werden“, so ein Elektriker; um Jobs, die, so versicherte ihm der Chef der Feuerwehrleute, auf dem Sektor alternativer Energie wieder geschaffen werden könnten. Am Ende fehlten den Atomkraftgegnern unter den Gewerkschaftern ganze 60.000 von 9 Mio. Stimmen, um in den Ausstieg einzusteigen. Enttäuschung auf der Herrentoilette. Der Seemann neben mir pinkelt mit gesenktem Haupt. „Da haben wir eine historische Chance verpaßt“, sagt er. „Jetzt hat die Atomlobby wieder ein Jahr, um Luft zu schnappen.“