Politikzirkus der europäischen Sozialisten

■ Viele Phrasen, viel Imagepflege und wenig Substanz bei den „Studientagen“ der sozialistischen Fraktion des Europaparlaments / Rau übt sich im Vorwahlkampf und läßt sich von den europäischen Genossen feiern

Von Reinhard Mohr

Frankfurt (taz) - „Willkommen Europa!“ lächeln fünf blonde, teils zahngeschädigte Kindlein seit einer Woche von den Plakatwänden Frankfurts herab. Willkommen aber waren während der „Studientage der Sozialistischen Fraktion im Europaparlament“ vom 1. bis 5. September in Frankfurt vor allem Spitzenpolitiker der SPD. Es sprach der Kanzlerkandidat Johannes Rau vor den 150 Fraktionsmitgliedern aus zwölf Ländern, vorher war es der Parteivorsitzende Willy Brandt, der den „Rückenwind“ des Nürnberger SPD–Parteitages nach „Europa“ tragen wollte; und Egon Bahr hatte die jüngsten Beschlüsse zur Sicherheitspolitik erklärt. Geschickt nutzten die SPD–Strategen das europäische Forum zu Wahlkampfzwecken - von „Studientagen“ konnte kaum die Rede sein. Ortsansässige Beobachter der Main–Metropole mochten am vergangenen Dienstag irritiert gewesen sein, als der Vorsitzende der Sozialistischen Fraktion im Europaparlament, Rudi Arndt, die offiziellen Eröffnungsworte sprach. Es klang für Augenblicke, als spräche noch der Oberbürgermeister Rudi Arndt, der die Stadt Frankfurt in seiner Amtszeit 1972 bis 1977 (sturm–)reif für seinen Nachfolger Walter Wallmann gemacht hatte. In wohlgesetzten Worten hob er die historische Bedeutung des Versammlungsortes hervor. Im Bürgerhaus Bornheim, dort, wo die Frankfurter Grünen gewöhnlich ihre ideologischen Saalschlachten austragen, waren viele hundert Meter Kabel verlegt, ein halbes Dutzend Fernsehkameras aufgebaut und doppelt so viele Simultandolmetscher im Einsatz, als Willy Brandt ans Red nerpult trat. Seine maskenhaften Züge, die ihn schon zu Lebzeiten mit der Wachsfigur in Madame Tusseaus Kabinett verwechselbar machen, lösen sich immer dann auf, wenn der 72jährige ein wenig aus dem Schema seiner politischen tour dhorizon ausbricht. Nach den Stationen „Erfolgreicher SPD–Parteitag“, „Ausstieg aus der Atomenergie“, „Westorientierung der Bundesrepublik“ und „Zweite Phase der Entspannungspolitik“ landet er bei den „Asylanten“ - „ein irreführendes Wort“, wie er sagt, „denn es sind Flüchtlinge“. Und: Man solle die Asylpraxis der europäischen Staaten gegenüber den Emigranten aus Hitler–Deutschland lieber nicht als Begründung und Vorbild heranziehen, denn „das war ein Schandfleck“. Da rührte sich keine Hand im Saal, nur der deutsch–französische Dauerflüchtling Daniel Cohn–Bendit klatschte Beifall. Sollte er allein sich daran erinnert haben, wie sozialistische, kommunistische und bürgerlich–liberale Flüchtlinge vor der Gestapo in ganz Europa herumgejagt, schließlich gar nach dem 1. September 1939 in Lagern „konzentriert“ wurden? Ex–Asylant Willy Brandt mußte dann gleich zweimal betonen, daß die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge „Hungerflüchtlinge“ seien, bevor sich schwacher Beifall regte. Wohl nicht nur für die Fernsehkameras fügte Brandt hinzu, daß die SPD in der Frage der Grundrechtsänderung beim Arktikel 16 „gegen den Strom schwimme“, das heißt, gegen die augenblickliche Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung (die der Kanzlerkandidat Rau so gerne für das Voranschreiten der SPD auf dem Weg zur „eigenen Mehrheit“ in Anspruch nimmt). Unterdessen schlurfte Carl Weiss, ARD–Fernsehkorrespondent in Brüssel, durch die Gänge und mochte sich darüber grämen, daß „Europa“ heute wohl nicht als Tagesthemen–Kommentar willkommen sei, denn „Europa“ ist so langweilig wie der Butterberg hoch und der Milchsee tief. Das veranschaulichte auch die Rede von Johannes Rau, die keinen Gemeinplatz zum Thema ausließ - weder „Europa als Sozialraum“ noch die Kritik am europäischen Agrarmarkt, in jedem Falle aber pro bono contra malum. Die Übertragung des Rauschen Friedensrufs „Versöhnen statt Spalten“ auf europäische Verhältnisse (“Versöhnung nach innen wie nach außen“) enthält gerade so viel Überzeugungskraft wie das geheime Motto der „Studientage“ sich am Realitätsprinzip orientierte: Verwöhnen statt Sparen. Politik als Phrase - selten wird das Elend einer Politik ohne Auseinandersetzung und Streit deutlicher als auf solchen Darbietungen eines gut alimentierten Wanderzirkus, in dessen Manege die Simulanten sich bewähren können. Nachdem Rau die südafrikanische Regierung „unverantwortlich“, die „Not der Dritten Welt“ eine „politische Herausforderung“ und die „Finanzierung von Agrarfabriken“ als „unsinnig“ bezeichnet hatte, brach die Dankesschuld der europäischen Abgeordneten über den neuen Hoffnungsträger herein. Nacheinander lobten Deputierte aus zwölf Ländern Johannes Rau für „seinen Mut und seine Klarsicht“, brachten sie die Erwartung zum Ausdruck, daß er als zukünftiger Bundeskanzler das soziale Europa voranbringen werde, und wollten abschließend bloß noch dies oder jenes aus seinem Vortrag „konkretisiert“ wissen: Wie das denn im Einzelnen laufen solle mit der „Europäisierung Europas“, mit dem geforderten Abzug der Pershing– und Cruise Missile–Raketen, mit der Gleichberechtigung der Frau, dem Ausstieg aus der Kernenergie, dem „befreiten“ Agrarmarkt und der Erweiterung der Mitbestimmungsrechte in ganz Europa...? Johannes Rau mochte gar nicht alle Fragen beantworten, aus Zeitmangel und weil er manche Antwort noch nicht geben könne. Doch auf eines konnte er sich festlegen: „Noch mehr Geld für noch mehr Unsinn in Europa auszugeben“, das laufe mit ihm jedenfalls nicht. Als im anschließenden „Pressegespräch“ den zahlreich erschienenen Journalisten nach der dritten Frage schon nichts mehr einfiel, war Johannes Rau schon auf die Antwort vorbereitet: „Na, das ist ja prima. Schön ists bei euch.“