Schuldfähig trotz Drogensucht

■ Gutachterstreit im Prozeß gegen Peter Jürgen Boock / Psychiater: „Er zeigte das entschlossene Vorgehen eines besonnenen Menschen“ / Drei weitere Gutachten werden folgen

Aus Stammheim Dietrich Willier

Peter Jürgen Boock war während der Zeit der Ermordung des Bankiers Jürgen Ponto, dem versuchten Raketenanschlag auf die Karlsruher Bundesanwaltschaft und während der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, also von Mitte bis Ende 1977, stark drogenabhängig. Diese „Drogenabhängigkeit des Opiattyps“ so Prof.Dr. Friedrich Bschor, Psychiater am Institut für Rechtsmedizin an der FU Berlin und derzeit einer der vier Gutachter im Revisionsverfahren gegen Peter Jürgen Boock, habe bei dem Angeklagten zu einem schweren Suchtzustand und zu einer „Minderung seines Steuerungsvermögens“ geführt. Die Frage von Boocks Drogenabhängigkeit war im vergangenen Jahr Grund für den Bundesgerichtshof, dem Revisionsantrag der Anwälte zu entsprechen, und das Urteil (3mal lebenslänglich plus 15 Jahre) aufzuheben. Zu einem grundsätzlich anderen Ergebnis kam am gestrigen Vormittag ein anderer Gutachter. Dr. Täschner, Psychiater am Stuttgarter Bürgerhospital, glaubt nicht, daß Boock im fraglichen Zeitraum erheblich drogenabhängig gewesen ist. Und selbst wenn der 5.Strafsenat am Oberlandesgericht Drogenabhängigkeit als gegeben ansehe, so Täschner, bedeute dies noch lange keine verminderte Steuer– und damit Schuldfähigkeit des Angeklagten. Drogenabhängigkeit allein nämlich, so der Dr. Täschner, lasse eine Anwendung von §21 StGB wegen stark verminderter Schuldfähigkeit nicht zu. Der Streit der Gutachter hatte wie erwartet begonnen, und nicht zum ersten Mal. Gutachter im ersten Verfahren war der Heidelber ger Psychiater und ehemalige Mitarbeiter am Kindereuthanasieprogramm, Prof. Dr. Joachim Rauch. Er war zu der Überzeugung gekommen, daß Boock nicht hinreichend drogenabhängig gewesen sein konnte, wenn er an den Taten beteiligt gewesen sei. Das jetzige Gutachten von Dr. Täschner schließt sich dieser Ansicht an. Es unterstellt Boock persönliche Tatbeteiligung - auch wenn dieser im ersten Prozeß als Mitglied eines Kollektivs verurteilt wurde. Genau daran aber bemißt Gutachter Täschner die Qualität der Drogenabhängigkeit des Angeklagten: „Boock war (zur jew. Tatzeit) auch schwerem Druck gewachsen, er verfügte über geistige Ordnung und Disziplin, er hat sich als Techniker der RAF ausgezeichnet, und zeigte das entschlossene Vorgehen eines besonnen Menschen. Die „Gruppe“, so der Gutachter, habe sich immer auf die Funktionstüchtigkeit Boocks verlassen können. Verminderte Zurechnungs– und Schuldfähigkeit schien dem Gutachter auch nicht dadurch gegeben, daß zahlreiche Zeugen in der jetzigen Verhandlung Boocks Drogenabhängigkeit seit dessen 16.Lebensjahr bestätigten und auch er selbst bei seiner medizinischen Untersuchung noch alte „Venenverhärtungen“ fand, ein sicheres Zeichen für Injektionen. Die Zurechnungsfähigkeit, so der Gutachter, müsse sich immer auch am „äußeren Bild des Drogenabhängigen orientieren, Beweise für „Sinnestäuschungen oder Bewußtseinsstörungen“ zur Tatzeit gebe es aber nicht. Dem gestrigen Vortrag der beiden Gutachter werden in den nächsten Tagen noch zwei weitere folgen. Es ist schon jetzt davon auszugehen, daß die vier Gutachter sich, zwei gegen zwei, Remis bieten werden.