„Trotzdem menschlicher als eure Knäste“

■ Zwar sind die italienischen Gefängnisse katastrophal überbelegt und die sanitären Zustände unzumutbar, trotzdem sind sie menschlicher als die deutschen / Im Knast Neapels sitzen die Mitglieder der Camorra traktweise nach Gruppen getrennt

Aus Rom Werner Raith

Giancarlo ist das, was man einen internationalen Knast–Spezialisten nennen könnte. „Mich hatten sie schon in halb Europa“, sagt er, „in Holland, in Frankreich, in Deutschland.“ Dort hatte ich ihn vor sechs Jahren kennengelernt; er wurde gerade wegen eines Drogen–Deliktes ausgewiesen. „Glaub mir“, berichtete er, „ich weiß, wovon ich rede: italienische Gefängnisse sind trotz alledem noch die menschlichsten, humaner jedenfalls als euer perfekter und überhygienischer Strafvollzug.“ Ein merkwürdiger Kontrast - denn augenblicklich befindet sich Giancarlo im Hungerstreik - und zwar in Italien. Er sitzt, wieder einmal, in Poggioreale, dem überfüllten neapolitanischen Zuchthaus. Gebaut wurde es wie die meisten Strafanstalten im vorigen Jahrhundert, Platz ist da für knapp l.000 Gefangene - derzeit sind aber doppelt so viele drin. Trotz des Hungerstreiks ist die Atmosphäre eher entspannter als bei früheren Besuchen. Fast hat sich so etwas wie eine Solidarität zwischen Häftlingen und Wachen ausgebreitet. „Wir streiken ja für eine Amnestie“, erklärt Giancarlo, „und dafür sind die auch.““Die“ - das sind die knapp 500 Aufseher, die den fast 2.000 Häftlingen gegenüberstehen - „jeder weniger“, sagt mir der Beamte, der mich ins Wartezimmer weist, „ist einer weniger, der ein Messer in der Matratze oder eine Pistole im Spind haben könnte.“ Poggioreale gilt als gefährlichster Knast Italiens. Die Mehrheit der Einsitzenden gehört Camorra–Banden an; sie sind traktweise nach Groß–Organisationen getrennt: im „Padiglione Milano“ sitzen z.B. die Leute des legendären Raffaelo Cutolo von der „Nuova Camorra organizzata“, im „Salerno“ die der gegnerischen „Nuova fami glia“. Bei einigen Knast–Keilereien haben die Camorristen sogar Maschinenpistolen eingesetzt. „Trotzdem“, beharrt Giancarlo, „ist es hier im Ganzen doch menschlich. Irgendwie fühlt man sich, wenn man in einer Gruppe drin ist, doch in einer Familie. Der Hungerstreik - an dem seit über einer Woche in ganz Italien an die 5.000 Häftlinge teilnehmen - richtet sich gegen die „Verschlep pung der versprochenen Amnestie“, aber die kommt für Leute wie Giancarlo sowieso nicht in Frage. „Es geht insgesamt um Reformen“, sagt er. Die Überfüllung (47.000 Häftlinge teilen sich derzeit 30.000 Haft–Plätze) macht z.B. eine sinnvolle Betreuung durch Psychologen und Sozialarbeiter unmöglich - abgesehen von den unzumutbaren „Wohn“–Verhältnissen. „In meiner Zelle geht es noch“, sagt Giancarlo, „wir haben einen schönen Blick auf das Neubauviertel und sind nur zu sechst.“ In Ucciardone in Palermo war er mit neun anderen in einer Dreimannzelle: „Da ist mal einer aus der siebten Etage der Stockbetten gefallen und hat sich alle Knochen gebrochen.“ Weiterer Streikpunkt: die sanitären Zustände.In Poggioreale ist es für einen „gewöhnlichen“ Gefangenen kaum möglich, selbst bei einem Kollaps effektive Hilfe zu bekommen (“Für die Bosse gilt das natürlich nicht“). Mitte August haben sich zwei Häftlinge umgebracht: „Sie waren schwer integrierbar“, meint Giancarlo dazu. Die medizinische Betreuung in den Haftanstalten krankt überall in Italien. Nur San Vittore in Mailand hat eine funktionierende Abteilung, wo es durchschnittlich an die 30 chirurgische Eingriffe und ein paar hundert ambulante Behandlungen pro Monat gibt. Amedeo sieht die Lage in den italienischen Knästen nicht so rosig wie Giancarlo. Er leidet vor allem „unter dem Entzug der Familie“: zweimal im Monat dürfen sie zu ihm, aber da er als gewalttätig gilt, gibt es Sprecherlaubnis nur durchs Sicherheitsglas. Eine Einschränkung, wegen der anderwärts auch weibliche Häftlinge streiken, weil sie ihre Kleinkinder oft nicht einmal anfassen dürfen. Giancarlo versteht das aber: „Manche haben da ihre eigenen Freundinnen schon umzubringen versucht.“ Ein Freund von ihm z.B. führte sich ein Jahr lang mustergültig auf, erhielt Freigang - und zerschnitt seiner Verlobten das Gesicht, weil er sie für untreu hielt. Gewalt ist in Italiens Gefängnissen Alltag; fast jeden Tag werden böse Händel gemeldet - mal der Gefangenen untereinander, mal Wärter gegen Gefangene und umgekehrt. Die herrschende Gewalt - und die Angst davor - wird dem Besucher im camorraregierten Poggioreale merkwürdigerweise weniger physisch spürbar als in den „stillen“ Hochsicherheitsgefängnissen und -trakten. In Rebibbia z.B., dem fast quadratkilometergroßen Areal des neuen römischen Zuchthauses, stoßen sie mir beim Durchwandern der Flure zur Sicherheitszelle die Maschinenpistolen ist Kreuz, als ich Mitglieder der „Autonomia operaia“ besuche. Selbst der Kugelschreiber muß abgegeben werden (“Daraus basteln die Pistolen!“); eine Klosterschwester, die ihren Vetter besucht, versteht die Welt nicht mehr, als sie auch das Heiligenamulett von ihr fordern: „Seit zwanzig Jahren habe ich es nie abgenommen“. Panzerspähwagen patroullieren draußen, die zehn Meter hohe Mauer ist so breit, daß Wasserwerfer drauf rangieren können. Trotzdem höre ich auch hier, daß man den italienischen Knast etwa dem deutschen bei weitem vorzieht. Die für die „Gewöhnlichen“ reservierten Besuchszellen - ein gutes Dutzend, während der Sprechzeiten rechts mit fünf oder sechs Häftlingen besetzt, links überfüllt mit zwei bis drei Dutzend Angehörigen, bis hin zu Babys - sind von solch familiärer Hektik bestimmt, als handle es sich um einen Kindergeburtstag. Der Wärter sitzt, um noch einigermaßen Überblick zu behalten, auf einer hohen Leiter inmitten einer dichten Rauchwolke. Es ist wohl das, was Giancarlo in Poggioreale unter „Menschlichkeit“ versteht. „Sie haben zwar Leute hier umgebracht“, sagt er beim Hinausgehen, „und sie zerstören dein Leben draußen. Aber das Leben hier drinnen, das haben sie noch nicht kaputtgekriegt.“ Und nach einer Pause: „Zumindest bei den Stärkeren von uns nicht.“