I N T E R V I E W Paranoides Mißtrauen der Politiker

■ Dr. Hans Dieckmann zur Krankheit in der Politik Die Internationale Gesellschaft für analytische Psychologie beendete gestern ihre 10. Mitgliedertagung in Berlin. Während des Treffens kam es auch zur Erörterung der Frage, inwieweit psychische Erkrankungen Einfluß auf die herrschende Politik haben. Wir führten ein Gespräch mit dem Präsidenten der Gesellschaft, Dr. Hans Dieckmann (Berlin).

taz: Sind unsere Politiker nun tatsächlich kranke Menschen? Dieckmann: Das kann man so nicht sagen. Es gibt in der Medizin keinen harten Unterschied zwischen Gesundheit und Krankheit. Es gibt nur Übergänge. Das gleiche gilt für seelische und körperliche Krankheiten. Jede seelische Krankheit hat körperliche Auswirkungen und umgekehrt. Wenn Alt–Bundeskanzler Schmidt z.B. mit einer Herzkrankheit im Krankenhaus gelegen hat, ist er deswegen nicht regierungsfähig, obwohl diese Herzkrankheit auch eine seelisches Äqivalent ist. Allerorten wird von einer steigenden Zahl von Neurosen und Psychosen gesprochen. Bleiben die Politiker davon ausgenommen? Selbstverständlich hat das auch einen Einfluß auf die Politik. Doch sollte man bedenken, daß Krankheiten eine Seite haben, die nach Gesundung drängt. Unsere Welt befindet sich in einem Zustand, der dringend der Veränderung bedarf. Wir stehen fast in einer ökologischen und atomaren Katastrophe. Dazu ist es erforderlich, die Spaltungen aufzuheben, zu der auch die Feindbilder in der Politik gehören. Was bedeutet das z.B. für das Ost–West–Verhältnis? Dort existiert so eine Art paranoides Mißtrauen zwischen beiden Seiten. Dieses Mißtrauen muß abgebaut werden; wir müssen unsere eigenen Fehler erkennen lernen. In diesem Zusammenhang sprechen Sie von einer „destruktiven Seite“ des einzelnen Politikers, die solche Feindbilder auslöst. Wie wäre die aufzulösen? Das ist sehr schwierig. Dafür gibt es kein Patentrezept. Lediglich geduldige und mühsame Aufklärungsarbeit leistet da etwas. Es gibt ja auch kein Rezept für die Verteufelung der Grünen durch die heutige deutsche Regierung oder etwa für die Verteufelung der Polizei durch die Grünen. Beide Parteien müssen erkennen, daß ein Großteil der Aggression, den sie da ausleben, in ihnen selber steckt. Dann wären also die Feindbilder in der Politik verankert im Alltagsleben der einzelnen Persönlichkeiten? Jedes Kollektiv setzt sich in letzter Konsequenz aus Individuen zusammen. Daher wäre auch das Wichtigste die Veränderung in jedem Einzelnen. Diese Probleme sind nicht durch kollektive Regulation zu lösen. Jeder einzelne Mensch muß sich für die derzeitige Situation verantwortlich fühlen. Müßten sich da nicht auch einzelne Politiker einer Therapie stellen, um sich dergestalt zu verändern? Wenn das für ihn nötig ist, sollte sich kein Politiker scheuen, wenn er etwa depressive Verstimmungen hat, einen Analytiker aufzusuchen und sein eigenes Unbewußtes kennenzulernen. Politiker müßten sich ohnehin mehr mit den Gedankengängen beschäftigen, die Sigmund Freud und Karl–Gustav Jung in unsere Kultur gebracht haben. Das Interview führte Detlef Berentzen