Kohl hat recht: Berlin ist überfüllt

■ Auch das Kaufhaus des Westens wird täglich aufs neue von Eingereisten überschwemmt Den Einheimischen wird so in ihrem Konsum–Mekka das Leben schwer gemacht / Hauseigene Ordner schützen die Ware

Von Maria Kniesburges

Verschreckt wendet die weißhaarige alte Dame am französischen Käsestand im West–Berliner KaDeWe, dem Kaufhaus des Westens, den Kopf. Ihre rechte Hand streicht verstört über die schwarze Kostümjacke aus Fließjersey. Wieder laute, fremdländische Stimmen um sie herum. Kein Zweifel, Kanzler Kohl und Berlins christdemokratische Oberhäupter haben recht: Berlin ist überfremdet. Der Kanzler und seine Koalitionskollegen nehmen das Problem ernst. Nach langwierigen Diskussionen haben sie sich gerade jetzt erst auf konkrete Maßnahmen gegen das Überfremdungsproblem geeinigt. Allein: Diese - nach Meinung von Franz– Josef Strauß sowieso von allzu großer Gastfreundschaft getragenen Gegenmaßnahmen - lassen ein Problem außer acht. Ein Problem, das nicht weniger als die kulturelle Identität West–Berlins bedroht. Einer der Brennpunkte, an denen das bedrohliche Zivilisationsgefälle auch an diesem ersten Samstag im September kraß zutage tritt, ist das KaDeWe. Schon nach den ersten Schritten in diesem so ganz auf Augenschmaus angelegten Konsum–Mekka par excellence muß der gestandene Berliner erleben, daß die Abwehr der Fremdenflut nicht dem Kanzler, sondern vorerst dem KaDeWe–Management überlassen bleibt. Hauseigene Ordner greifen freundlich, aber bestimmt ein, als eine ganze Gruppe entschlossen blickender, fremdländisch sprechender Personen resolut an der im Parterre drapierten echten Chinaseide zerrt. Zwei Treppen höher, inmitten feinster Porzellane und fließender Glitterstoffe, entspannt sich die Lage. Es dominiert das gepflegte Stammpublikum. Die Szene wirkt beruhigend und fördert die Wahrung der Identitiät: Keine Stimmen mit ungewohntem Akzent, keine Menschen, die gierigen Blickes alles angrapschen. Unbehelligt von all dem wählt ein seriöser Mittfünfziger im legeren weißen Straßenanzug zwischen gediegenen Damaststoffen. Die Dame in tiefblauem Samt, der gerade Vorhangsstoffe vorgeführt werden, ist zweifelsohne auch eine Einheimische. Nach dieser kurzzeitigen Harmonie trifft die zugespitzte Lage ganz oben in der Feinschmeckerabteilung um so härter. In sonderbaren Sprachen redende Menschen umlagern die Stände, gar in ganzen Gruppen zusammengerot tet blockieren sie die Gänge. Es ist kaum ein Herankommen an die „Köstlichkeiten aus aller Herren Länder“, wie sie das KaDeWe– Management wahrheitsgetreu verspricht. Ein vertrauter berlinerischer Tonfall ist nur ganz vereinzelt aufzufangen. „Meine Stammkunden waren schon alle früh am Morgen da“, bestätigt der Verkäufer in der trefflich sortierten Weinabteilung die bittere Wahrheit. Wissend um die tagtägliche Fremdenwelle quälten sich Hunderte von Berlinern bereits in den frühen Morgenstunden aus dem Bett, obwohl dieser 6. September doch ein verkaufsoffener Samstag ist. Sie haben gut daran getan. In der Meeresfrüchteabteilung mittags um drei ist eine waschechte Berlinerin der Flut der Zugereisten ausgesetzt. Die Fassung wahrend, wirft sie kurz einen Blick nach rechts, einen nach links auf die Fremden, die sie umringen und mit ungläubigen Minen mehr die Preisschilder denn die Delikatessen in der ihnen eigenen Lan dessprache kommentieren. In diesen Ziffern präsentiert sich das gelobte Land: Atlantik–Hummer, 45 Mark das Kilo, Russischer Kaviar zur runden Summe von 210 Deutscher Westmark je 100 Gramm. Nur Sprchgewandte verstehen die bewundernden Zurufe der Auswärtigen: „Unglaublich!“, „Hast du sowas schon gesehen?“, oder „Was ist das denn?“. Das Einreiseland hält, was es versprach. Der einheimsichen Kundin wird es nun doch mulmig in der Menge. Eilig nestelt sie an ihrer Geldbörse, um die 71,52 DM für den kleinen Hummer und die vier zarten Lachsscheiben über den Ladentisch zu schieben. Zum Glück hat sie genug Kleingeld dabei. Unbeeindruckt von all dem befremdlichen Treiben bahnt sich ein junges Paar seinen Weg durch die Schlemmeretage. Souverän ordert die junge Frau - heute vom flauschigen Flanell bis zu den zierlichen Lackschuhen ganz in Rosa gehalten - zarte Filetspitzen und Trüffelleberpastete. Ihr in schlichtem Grau gestylter Partner mit den gewagten lila Schnürschuhen führt, in einer Hand die Einkaufstasche, seine Dame in Rose durch die fremde Masse zur internationalen Käseabteilung. Die zwei machen Mut. Sie wahren Haltung. Wir sind noch wer. Sie halten durch bis zum Krabben– Cocktail an der Delikatessen–Bar. Da öffnet sich erneut der große Fahrstuhl. Zunächst noch im geordneten Truppenverband strömen wieder um die zwanzig Fremdländer in die Nobeletage. Ihre schnell lauter werdenden Zurufe sind völlig unverständlich - auf jeden Fall aber muß es sich um Südländer handeln. Die Situation droht zu eskalieren - und Bonn schweigt. Über dem Loch in der Mauer von Berlin– Ost nach Berlin–West wurde der Transitverkehr vergessen! Sozialdemokratischen Umtrieben der 70er Jahre ist es zu danken, daß sie, die unzivilisierten Fremden, jeden Tag über den Osten nach West–Berlin einreisen und die Zentrale westlichen Lebensstils erstürmen: Bayern, Schwaben, Hessen, Niedersachsen ...