Rechtszustände

■ In Chile herrscht der Belagerungszustand

Die Schüsse auf den chilenischen Diktator moralisch zu verurteilen und die Schützen Terroristen zu nennen (wie es in vielen BRD–Medien geschehen ist), steht allenfalls den Opfern seines Regimes zu. Uns bleibt nur das politische Urteil. Hätten die Schüsse ihr Ziel erreicht, wäre die Diktatur zumindest kopflos geworden. Denn Pinochet ist mehr als nur ihre Charaktermaske. Er ist so leicht nicht zu ersetzen, zu sehr hat er das Regime auf seine Person maßgeschneidert. Nun, der Diktator ist davongekommen, und schon melden sich Stimmen, die die Verhängung des Belagerungszustandes den gescheiterten Attentätern anlasten. Als ob Pinochet das Attentat zur rechtlichen Absicherung einer schärferen Repression nötig gehabt hätte. Auch unter dem bisherigen, „normalen“ Ausnahmezustand durften Personen beliebig festgenommen, Versammlungen verboten und Zeitschriften geschlossen werden. Und das geschah auch oft genug. Die Folter ist übrigens auch unter dem Belagerungszustand nicht erlaubt. Es geht nicht um die rechtliche Absicherung, höchstens um die Rechtfertigung verschärfter Repression. Das Problem, wie sich die Verhaftung von notorisch pazifistischen Priestern mit einem Attentat rechtfertigen läßt, sollten wir dann aber an Pinochet zurückgeben. Vorerst hat sich nur eines gezeigt: Das Gesetz des Handelns bestimmt noch der Diktator. Ob die Opposition sich der Militarisierung des Konflikts entziehen und die politische Initiative übernehmen kann, hängt nicht von den Schüssen des Untergrunds, sondern von ihrer eigenen Fähigkeit ab, sich auf ein gesellschaftspolitisches Projekt zu einigen und konkrete Strategien seiner Durchsetzung vorzuschlagen - und deren Erfolg hängt auch von den chilenischen Militärs und vor allem den USA ab. Thomas Schmid