I N T E R V I E W „Das Maß ist voll“

■ Gespräch mit dem bayerischen SPD–Spitzenkandidaten Karl–Heinz Hiersemann (42)

taz: Die SPD–Wahlstrategen behaupten, die Bundestagswahl wird in Bayern und Baden–Württemberg entschieden. Im März 83 kam die bayerische SPD auf 28,9%. Im Oktober wollen Sie jetzt 35% erreichen. Wo sollen die herkommen? Hiersemann: Es gibt eine Reihe von Bürgern, die mit der Politik, die hier betrieben wird, nicht einverstanden sind. Das gilt für die Frage der Arbeitslosigkeit und der sozialen Gerechtigkeit. Bei den Landwirten herrscht eine große Unzufriedenheit. Gerade nach Tschernobyl ist bei vielen die Nachdenklichkeit über Kernenergie und WAA größer geworden. Immer mehr Frauen merken, daß sie die Zeche der Bundesregierung zahlen und immer mehr haben hier in Bayern das Gefühl, das Maß ist voll. Ich denke da an die Liberalität, also „Scheibenwischer“ oder das Einreiseverbot für die Österreicher. In Niedersachsen wurde das von der SPD favorisierte Wahlkampfthema, die Verschärfung des Streikparagraphen 116, von Tschernobyl eingeholt. In Bayern setzt die SPD auf den Ausstieg aus Kernenergie und WAA. Nun hat CSU–Generalsekretär Tandler angekündigt, das Asylrecht wird als Wahlkampfthema die Kernenergie überholen. Richtig ist in der Tat, daß die CSU versucht, unangenehme Themen wegzudrücken durch einen emotionalen Feldzug in Sachen Asylrecht. Wir müssen deutlich machen, daß die bayerische Staatsregierung und die Bundesregierung in den letzten Jahren nichts gegen steigende Asylbewerberzahlen unternommen haben. Wenn dann plötzlich kurz vor der Wahl eine Grundgesetzänderung verlangt wird, die nichts bringt, dann ist das nur eine billige Wahlkampfshow. Außerdem steht ja die CSU mit ihrer Forderung mittlerweile in den eigenen Reihen ziemlich isoliert da. Sie hat es aber dann auch mit dieser Kampagne zu verantworten, wenn wir in letzter Zeit von Brandanschlägen auf Asylunterkünfte und ähnliches gehört haben. Gerade die Oberpfalz gilt als Problemgebiet bei der Flüchtlingsverteilung. Will die CSU dort das durch die WAA verlorene Terrain wiedergutmachen? Ein ganz zentrales Problem hier in Bayern ist der Versuch, gerade in kleinen Ortschaften größere Ansammlungen von Asylbewerbern unterzubringen. Das gilt auch für die Oberpfalz. Wenn dann Tandler die Unverfrorenheit besitzt, zu sagen, das Asylrecht bringt uns 60 %, dann muß doch der Letzte begriffen haben, daß es denen gar nicht um die Sache geht. Dies ist nichts weiter als der Versuch, das bayerische Volk erneut für dumm zu verkaufen. Anscheinend ist das der CSU jahrzehntelang gelungen. Ihr genügt seit Jahren der Slogan „Bayern vorn“, um satte Mehrheiten knapp unter der 60 %–Grenze zu erzielen. „Bayern vorn“ ist der Versuch zu behaupten, alles in Bayern ist Spitze, hier wird eine hervorragende Politik betrieben. Auf den CSU–Plakaten finden sich überall großartige Prozentrechnereien im Vergleich mit anderen Bundesländern. Dabei bezieht Bayern noch 1986 über 20 Millionen aus dem Länderfinanzausgleich und über 300 Millionen Bundesergänzungszuweisung. Es ist schon ein starkes Stück, Nordrhein–Westfalen fast zu einem Entwicklungshilfeland degradieren zu wollen oder ständig das rotgrüne Chaos in Hessen zu beschimpfen und sich aber davon finanziell ausstaffieren zu lassen. Worauf stützen Sie die Hoffnung, daß nach 30 Jahren CSU der Wähler jetzt die Konsequenzen zieht? Wählerentscheidungen fallen nicht einschichtig, an einem zentralen Thema. Diesmal kommt einfach mehr zusammen. Das Interview führte Bernd Siegler