Im Gänsemarsch zum Königspalast

■ Mit einem Gnadengesuch an ihren Monarchen hofften die Landarbeiter Andalusiens drohenden Gefängnisstrafen zu entgehen / Aber auch die Politik der Gnade scheint der Modernisierungspolitik der spanischen Sozialisten zum Opfer zu fallen

Von Gabriela Simon

Etwas ärmlich wirken sie schon neben den respektgebietenden Palästen der Hauptstadt. Die etwa 300 Tagelöhner haben eine lange Reise hinter sich und kaum Geld in den Taschen. Den Palast des Königs haben nur wenige von ihnen schon einmal gesehen. „Fila india“ (Gänsemarsch) lautet die Zauberformel, mit der sie sich - ohne den Unmut der Ordnungshüter zu erwecken - dem Palast zu nähern versuchen. Und bevor sie sich in Reih und Glied, einer hinter dem anderen und ohne „Klumpen“ zu bilden, auf den Weg machen, werden ihnen von einem bärtigen Anführer noch einmal die Prinzipien ihres Unternehmens eingeschärft: so nah wie möglich an den Palast herankommen, ohne sich auf Konflikte mit der Staatsgewalt einzulassen; Schläge sollen gegebenenfalls widerstandslos eingesteckt werden. Aber schon nach wenigen Schritten wird die ungewöhnliche Demonstration von den Hütern der Ordnung gestoppt. Es wird verhandelt, man einigt sich schließlich darauf, den Marsch noch weniger bedrohlilch zu gestalten: nach jeweils fünf Personen muß ein Abstand von zwei Metern eingehalten werden. Solchermaßen in Stücke gerissen, darf der Gänsemarsch zum König dann fortgesetzt werden. „Amnestie“– und „Freiheit“– Rufe auf den Lippen, laufen die Tagelöhner diszipliniert und friedlich durch die Straßen der Hauptstadt, bis sie ein paar hundert Meter vor der Residenz des Königs erneut, und diesmal endgültig, gestoppt werden. Nur eine fünfköpfige Delegation wird bis zum Palast vorgelassen. Sie nimmt den Brief mit, in dem das Anliegen der Demonstranten enthalten ist: ein Gnadengesuch. Am Eingang des Palastes angekommen, erfahren die Tagelöhner, daß der König keine Zeit für sie hat. So bleibt ihnen nichts anderes übrig, als den Brief mit dem Gnadengesuch bei den Torhütern abzugeben und unverrichteter Dinge zu den ihrigen zurückzukehren. Nein, wir befinden uns weder in einem vergangenen Jahrhundert, noch auf einem weit von den Zentren der modernen Zivilisation entfernten Kontinent. Die Szene spielte sich vor einigen Tagen in Madrid ab, und die Tagelöhner, von denen hier die Rede ist, kommen aus Andalusien. Für sie war der spanische König auch erst die zweite Adresse. Der sozialistische Regierungschef Felipe Gonzales, dem sie sich vorher auf dieselbe Weise zu nähern versucht hatten, hatte sie nicht weniger brüsk abblitzen lassen. Hier wurde die fünfköpfige Delegation der „Jornaleros“, die sich vollkommen friedlich vor dem Regierungspalast niedergelassen hatte, um auf die Antwort Felipes auf das Gnadengesuch zu warten, kurzerhand in Polizeibusse verfrachtet und erst in gebührender Entfernung vom Palast wieder abgesetzt. „Maschinenstürmer“? Felipe Gonzales hat gute Gründe, mit den andalusischen Landarbeitern nicht diskutieren zu wollen. Denn während er vollmundig davon spricht, Andalusien in das Kalifornien Europas zu verwandeln, werden die Arbeits–, und damit die Verdienstmöglichkeiten für die 280.000 Landarbeiter in Andalusien immer weniger. Nach wie vor beherrschen traditionelle Großgrundbesitzerfamilien das Land im südlichen Teil Spaniens. Und die Agrarpolitik der regierenden Sozialisten orientiert sich vor allem an einem Ziel: durch technische Modernisierung soll die spanische Landwirtschaft dem Konkurrenzdruck in der EG angepaßt werden; und zwar ohne an den Latifundienstrukturen zu rütteln, die ja die Mechanisierung und Chemisierung der Agrarwirtschaft im großen Stil erst so richtig rentabel machen. In dieser lichten Vision eines „spanischen Kalifornien“ könnte man die arbeitslosen Landarbeiter, die sich verzweifelt gegen das Abholzen der traditionellen und arbeitsintensiven Olivenkulturen wehren und den Einsatz von Maschinen in der Baumwoll– und Rübenernte bekämpfen, für Relikte aus einer düsteren Vergangenheit halten. Ihre uralte und nach wie vor ungebrochen aktuelle Forderung nach „Land und Gerechtigkeit“, die sie in den vergangenen Jahren mit wiederholten Landbesetzungen bekräftigten, muß dem Sozialisten Felipe Gonzales unangenehm in den Ohren klingen. Von „Maschinenstürmern“ ist deshalb in der spanischen Öffentlichkeit die Rede, und von einem „agrarischen Messianismus“ der Jornaleros - ein Vorwurf, der sie wohl endgültig ins dunkle Reich der Tradition verbannen soll. „Auf die blinde Gewalt der Herrschenden müssen wir Unterdrückten mit der ethischen Haltung der Gewaltlosigkeit antworten.“ Diese Erklärung von Manuel Sanchez Gordillo, dem eingangs schon erwähnten bärtigen Anführer der Jornaleros, klingt vielleicht wirklich etwas antiquiert, ebenso wie seine an die Re gierung gerichtete Forderung: „Der Schrei nach Land und Gerechtigkeit darf nicht in den Gefängnissen verstummen.“ Sanchez Gordillo ist Bürgermeister in dem hauptsächlich von Jornaleros bewohnten und für seinen Kampfgeist in ganz Spanien berühmt gewordenen Dorf Marinaleda. Er sprach diese Worte - nicht zum ersten Mal - als Auftakt zu einem Hungerstreik, an dem sich 400 Bürger Marinaledas beteiligten. Der Anlaß: Diego Canamero war wegen Beteiligung an einer Landbesetzung in letzter Instanz zu einem Monat Gefängnis verurteilt worden. Diego Canamero ist einer von 600 Landarbeitern, die seit Ende letzten Jahres wegen Landbesetzungen und anderer Protestaktionen angeklagt worden sind. Schon vor ihm wurden über 150 der Angeklagten zu Strafen bis zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Aber Diego Canamero ist nicht irgendwer. Er ist der Generalsekretär der Landarbeitergewerkschaft SOC. Seine Verurteilung, verbunden mit dem Ultimatum, bis zum 5. September die Strafe antreten zu müssen, brachte das Faß zum Überlaufen. Diesmal trat nicht nur Marinaleda in den Hungerstreik. Eine ganze Reihe von andalusischen Dörfern streikte, die Jornaleros sperrten sich in Rathäuser ein, organisierten Demonstrationen und ein paar hundert von ihnen brachen schließlich nach Madrid auf, um den Antrag auf Begnadigung Diego Canameros sowie aller anderen angeklagten Jornaleros zu unterstützen. Die nächste Runde Was hat Diego Canamero eigentlich verbrochen? Am 19. Januar 1984 war er zusammen mit 200 anderen arbeitslosen Jornaleros aus El Coronil in der Provinz Sevilla zur Finca „El Garrotal“ marschiert. Sie hatten dem Großgrundbesitzer dort einen Brief überreicht mit der Forderung, pro 30 Hektar seines Landes einen Arbeiter zu beschäftigen, oder seine Finca an eine Kooperative arbeitsloser Jornaleros zu verpachten.Der Großgrundbesitzer lehnte ab, die Jornaleros gingen wieder nach Hause. Das war alles. Niemandem ist dabei etwas zugestoßen. Aber der Großgrundbesitzer fühlte sich „bedroht“. Die Anklage lautete deshalb - wie übrigens bei den meisten der 600 Angeklagten - auf Nötigung. Daß die schlichte Forderung nach Arbeit unter einer sich sozialistisch nennenden Regierung als Verbrechen geahndet wird, ging in diesen Tagen vielen Spaniern nicht in den Kopf. Von Felipe Gonzales und dem spanischen König verschmäht, wurden die 300 Jornaleros in Madrid immerhin von der Bevölkerung mit Sympat hiebekundungen und praktischer Solidarität reichlich eingedeckt. Die Regierung aber ließ sich davon nicht beeindrucken: Diego Canamero wurde nicht begnadigt. Nach ein paar Tagen der Unsicherheit hatte der zuständige Richter schließlich ein Einsehen: Er setzte die Strafe für zwei Jahre zur „Bewährung“ aus. Diego Canamero muß also fürs erste nicht ins Gefängnis, die 300 Jornaleros überließen die Madrider Paläste wieder den Madrilenen und kehrten am Wochenende in ihre Heimatdörfer zurück. Aber in Andalusien geht der Kampf weiter. Mit Landbesetzungen, Hungerstreiks und Besetzungen von Rathäusern wird jetzt die nächste Runde vorbereitet. Denn am Donnerstag beginnt im Landgericht von Sevilla ein Prozeß gegen 18 Jornaleros, gegen die der Staatsanwalt insgesamt 25 Jahre Gefängnis fordert. Die arbeitslosen Landarbeiter Andalusiens haben sich auf eine lange Auseinandersetzung eingestellt. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? „Wir haben alle Zeit der Welt“, sagen sie, „und ein bißchen mehr.“