Das AKW Daya Bay spaltet China und Hongkong

■ Trotz massiver Proteste aus der britischen Kronkolonie hält die Regierung der Volksrepublik am Bau eines umstrittenen Atomreaktors an der gemeinsamen Grenze fest

Von Larry Jagan

London (taz) - Die monatelangen Spekulationen und Diskussionen sind vorbei; elf Jahre vor der für 1997 angepeilten Wiedervereinigung zwischen den beiden ungleichen politischen Einheiten hat Hongkong eine wichtige Schlacht mit dem sozialistischen „Mutterland“ verloren. Das Atomkraftwerk Daya Bay wird 50 Kilometer nördlich der Kronkolonie in der Provinz Shenzhen gebaut. „Die Regierung hat ihren Entschluß nicht geändert und wird ihn auch nicht ändern“, verkündete Chinas Minister für Atomenergie am vergangenen Freitag und zeigte damit ganz im Trend der neuen Westorientierung, daß man sich in Peking um die Ansichten der Bewohner der Finanzmetropole nicht schert. Mehr als eine Million Menschen, fast ein Fünftel der Einwohner Hongkongs hatten nämlich vor etwa einem Monat eine Petition gegen den Bau des AKWs unterzeichnet. Das 3,46 Milliarden–Dollar– Projekt - ein sogenanntes Joint Venture von chinesischen und Hongkonger Firmen - soll 1992 fertiggestellt sein und 1.800 Megawatt Strom für Hongkong und die chinesische Sonderwirtschaftszone Shenzhen bereitstellen. Schon als das Vorhaben 1980 erstmals ins Blickfeld geriet, gab es Zweifel an seiner Rentabilität und Sicherheit, doch nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl wurde der Widerstand massiv. Über hundert Umweltinitiativen, Studentenorganisationen, religiöse Gruppen und die mächtige Hongkonger Lehrergewerkschaft schlossen sich zusammen, um das Projekt zu bekämpfen. Breiter Widerstand „Nicht einmal die Diskussionen über das politische System Hongkongs nach dem Zusammenschluß mit China haben derartige Emotionen freigesetzt“, beschreibt Oppositionssprecher Fung Chi Woo die Stimmung jener Zeit. Die Zeitungen druckten massenhaft Leserbriefe gegen das AKW, Kirchen, Gewerkschaften, und sogar einige Verwaltungsfunktionäre schlossen sich der Kampagne an. Wichtigste Aktivität der AKW–Gegner war die im Juni begonnene Unterschriftenaktion, und Ende August reist eine Delegation unter Führung von Fung nach Peking, um das Ergebnis - über eine Million Signaturen - zu übergeben. Doch die chinesische Regierung maß dem Protest offenbar geringe Bedeutung bei. Die Delegation wurde von unteren Kadern abgefertigt. Die Sorge der Hongkonger Regierung über das Projekt wuchs, nachdem die britische Atomenergiebehörde in ihrem Auftrag den vertraulich behandelten „Harwell Report“ zu den Sicherheitsrisiken der Anlage abgeliefert hatte. Das Ergebnis: Die Wahrscheinlichkeit eines schweren Unfalls liegt bei eins zu 333, schnelle Evakuierung sei unmöglich, und mindestens 1.000 Hongkonger würden infolge eines solchen Unfalls an Krebs sterben. „Ich muß gestehen“, gab nach der Lektüre selbst der Direktor des Hongkonger Elektrizitätsversorgungsunternehmens, Osborne, zu, „das Risiko ist höher, als ich erwartet habe“. Hongkongs Delegierte im chinesischen Volkskongreß reagierten prompt und forderten die Bildung einer Kommission aller beteiligten Regierungebenen zur Klärung der Sachlage. Mehrere Mitglieder der von Peking zur Ausarbeitung einer Hongkonger Verfassung installierten Grundgesetzkommission sind inzwischen erklärte Gegner des Projekts. Und der Legislativrat, eine Art Parlament Hongkongs mit begrenzten Kompetenzen, plädierte für eine Verschiebung des Baubeginns, um weitere Studien abzuwarten. Denn eine vom Hongkonger Legislativ– und Exekutivrat nach Europa, USA und Japan entsandte Untersuchungskommission kam zu dem Schluß, daß die Sicherheit des AKWs selbst nach dem jetzigen Stand der Technik in mindestens 47 Punkten verbessert wer den könne. Um die Pekinger Führung nicht zu düpieren, sprachen die Reisenden in ihrem Abschlußbericht aber vorsichtig von „Beobachtungen“ anstatt von „Vorschlägen“. Fluchtgrund AKW? Lange Zeit hatten die Hongkonger den Eindruck, daß ihr Widerstand in Peking durchaus ernstgenommen wurde. Der Vorsitzende der chinesischen Nachrichtenagentur in Hongkong, Xu Jiatun, der als offizieller Repräsentant der Volksrepublik in Hongkong gilt, ermunterte die AKW–Gegner und erweckte dadurch den Eindruck, daß die chinesische Regierung eventuell noch zu einem Kurswechsel bereit sei. Doch in den letzten zwei Monate zeigte sich, daß Daya Bay wohl eher ein Prestigeprojekt einer bestimmten Politfraktion in Peking ist. Die Frau des chinesischen Vize–Premiers Li Peng ist nämlich Vertreterin der chinesischen Betreiberfirma in der Kronkolonie, und Li Peng gilt als Nachfolgekandidat von Premier Zhao Ziyang. Die erfolgreiche Abwicklung des Projekts gilt offenbar als Eintrittskarte für die nächste Karrierestufe. Trotz Tschernobyl und einer erklecklichen Anzahl von Unfällen mit radioaktivem Material auf chinesischem Boden wurde in Daya Bay schon mit dem Bau begonnen, und auch die anderen beiden geplanten AKWs, Quinshan und Sunan, werden unverdrossen in Angriff genommen. Allenfalls über eine Präsenz Hongkongs in einem noch zu schaffenden Beirat für Daya Bay könne verhandelt werden, verkündeten Chinesische Offizielle. Für viele Bewohner Hongkongs, die inzwischen zu 70 Prozent gegen die Anlage sind, ist dieses Verhalten ein Testfall für die Art, wie politische Kontroversen nach 1997 ausgetragen werden können, und ein gängiger Spruch auf der Straße lautet: „Wegen 1997 muß man nicht flüchten, aber wer wagt es zu bleiben, wenn Daya Bay fertig ist?“