Die „neue Freiheit“ auf Haiti

■ „Angeblich soll sich alles ändern, sagt die Regierung“ meint Jeremy Blanc sieben Monate nach dem Sturz der Diktatur Jean–Claude Duvaliers / Der Wandel auf der Karibikinsel nimmt sich Zeit. / Hoffnung auf neue Touristen

Aus Haiti Rita Neubauer

Labadie ist Dorfidylle pur. Auf den ersten Blick. Weißgekalkte Lehmhütten mit Strohdächern werden von Kokos– und Bananenpalmen überragt. Am Strand knüpfen Fischer Netze. Außer kläffenden Hunden oder erregten Diskussionen der Labadianer stört nichts die Ruhe des gemächlichen Dorflebens. Der Ort im Norden von Haiti ist einige Jahre seiner Zeit hinterher. Der holprige Feldweg von Cap Haitien endet zwei Kilometer vor dem Ort; dazwischen liegt nur noch undurchdringlicher karibischer Urwald. Ruderboote sind die einzige Verbindung mit der Außenwelt. Den Alten von Labadie gefällt das, und die wenigen Touristen in Cap Haitien handeln den Flecken als Geheimtip. Wenn es nach den Jungen geht, soll er das bald nicht mehr sein. Sie wollen eine Straße. Mit ihr sollen nicht nur mehr Touristen, sondern auch Elektrizität Einzug halten - Schluß mit den Petroleumlampen, Schluß mit den rabenschwarzen Nächten, die nach sieben Uhr abends das Dorfleben bis zum Morgengrauen lahmlegen. Monsieur Gerard Almajor, der Chef von Labadie, gehört zur alten Generation. Ihn stört es nicht, mit einer Flasche Bier im Finsteren vor dem Haus zu sitzen. Wenn Gäste kommen, wird der Generator angeworfen und das Wohnzimmer mit seinen grellroten Plastikmöbeln und allerlei Nippes auf Schränken und Tischen vorgeführt. Anschließend gehen wieder die Lichter aus. In der rauhen Stimme schwingt Stolz und auch ein Hauch von Wehmut mit, wenn Almajor das Leben in Labadie beschreibt: „Wir haben solange wie möglich versucht, den Ort so zu lassen, wie er seit Generationen ist. Aber den Fortschritt kann man nicht aufhalten. Wir müssen vielleicht eine Sache aufgeben, um eine andere zu bekommen.“ Fortschritt ist heute schon jeden Montag früh vor der Küste von Labadie zu bewundern. Dann schiebt sich ein norwegischer Luxus–Liner in die malerische Postkarten– Idylle, und spuckt einige hundert US–Touristen aus. Das bedeutet Arbeit für die Frauen und Männer im Dorf, das sonst vom Fischfang und ein wenig Landwirtschaft lebt. Für einen Tag Strandleben auf der Halbinsel gegenüber Labadie zahlt die Reederei pro Tourist vier Dollar. Gelbe Tretboote schaukeln plötzlich in der Bucht, Essen wird herangeschafft, Liegestühle über den Strand verteilt. Währendessen sitzen die Händler von Sisaltaschen, Perlenketten und Strohhüten arbeitslos am Hafen von Cap Haitien und warten auf die Touristen. Nach dem 7. Februar, dem Sturz von Jean–Claude Duvalier, blieb auch der letzte Kreuzfahrer aus. Vor Jahren, als AIDS noch kein Thema und die Duvalier–Diktatur noch sattelfest war, überschwemmten Passagiere von vier Dampfern die Stadt. Heute heißt der Montag wieder Montag und nicht mehr „Touristen–Tag“, und die Hafenanlagen, mit einem Zuschuß von 18 Millionen Mark aus der Bundesrepublik errichtet, sind reine Dekoration. Hoffnung, daß sich das bald wieder ändert, hegt auch der ehemalige deutsche Honorarkonsul, Carl–Otto Schütt. Seine Familie, die sich nicht nur seit 1832 in Cap Haitien mit Ex– und Import beschäftigt, sondern auch seit Generationen den Honorarkonsul - jetzt hat der Sohn Broder Schütt das Amt inne - stellt, fungiert als lokaler Agent der Reederei. Sein Traum: wöchentlich vier Schiffe für Labadie und natürlich wieder Kreuzfahrer für Cap Haitien. Neben Touristenschiffen aber liegt das Hauptaugenmerk des Hauses Schütt auf Orangenschalen - getrocknet und ungespritzt. Sie werden von Marktfrauen und Händlern angeschleppt, im altbackenen Kontor gewogen und im Innenhof von schwarzen Arbeitern in Säcke geschaufelt. Aufschrift: Orange Peals/Schütt. 800 Tonnen Schalen von Bitter– und Süßorangen verlassen jedes Jahr Cap Haitien in Richtung Bundesrepublik. Dort sorgen sie für Geschmack in Orangenlikör und Marmelade. Früher hat das Handelshaus auch Kaffee exportiert und zu den „besten Zeiten“, so die Tochter Leticia Schütt, auch vier Handelsschiffe besessen. Mit Touristen und Orangenschalen wird heute Geld verdient. Seit der sogenannten „Revolution“ im Februar dieses Jahres bleiben nicht nur Touristen aus. Auf dem Inselstaat hat sich zweifellos einiges geändert. Nur, ob zum Guten oder Schlechten, das kommmt bei vielem auf den politischen Standort an. Westeuropäische Beobachter beschreiben die, wie sie sagen, „neue Freiheit oder was die Haitianer darunter verstehen“ gern als „anarchistische Zustände“; die Haitianer dagegen sehen die großen Erwartungen in den Monaten nach dem Sturz Baby Docs bereits von der alten Misere eingeholt. Zumindestens die Masse der Elenden und Armen in den Slumvierteln. Jeremie Blanc ist einer der 600.000 Bewohner der „Bidonville“, der Elendsviertel in Port– au–Prince, der Hauptstadt von Haiti. Er bewohnt eine rostigbraune Blechhütte, neben hunderten anderer Blechhütten. Rund fünf Quadratmeter sind das Zuhause der sechsköpfigen Familie Blanc - gerade Platz für zwei Betten und eine Kochstelle. Wasser gibt es alle paar Tage für wenige Stunden an einer Sammelstelle. Die Gemeinschaftstoiletten sind in den Boden gebohrte Löcher, in den Gassen zwischen den Hütten steht knöcheltief grauer Morast, den der Regen anschwemmt. „Ob sich was geändert hat?“, Jeremie Blanc runzelt die Stirn. Dann wettert er: „Angeblich soll sich alles ändern, sagt die Regierung. Aber...“, langes Schweigen, während der 34jährige Haitianer seine abgearbeiteten Hände betrachtet, „...im Grunde sitzen wir noch immer im gleichen Mist. Man hat den Leuten Arbeit versprochen, statt dessen haben viele ihre Arbeit verloren. Es ist alles beim Alten geblieben.“ Zum Abschied schiebt er nach: „Und wissen sie, was das Schlimmste ist, die Regierung hat nicht mal eine Idee, was sie machen soll.“ Jeremie Blanc flechtet Strohmatten. Das bringt ihm rund 25 Dollar im Monat, davon wird seine Familie gerade satt. Einen festen Job haben die Wenigsten im Slum. Immer muß die ganze Familie etwas für die Haushaltskasse beitragen. Frauen verkaufen Gemüse, Jugendliche bieten lautstark Zeitungen und Zigarettenpackungen an der Straße an, Kinder laufen mit bettelnder Hand Ausländern hinterher. Nur sind die rar geworden, und die reichen Einheimischen sitzen in klimatisierten Jeeps hinter geschlossenen Scheiben. Deren Welt unterscheidet sich ganz entschieden von der Welt der Masse der Haitianer. Sie leben hinter hohen Mauern hoch über der Stadt, wo die Luft kühler und die Restaurants teurer sind, sie nutzen ihr US–Visum für Wochenend– und Einkaufstrips nach Miami, sie leisten sich Gärtner und Kindermädchen und trauern Zeiten nach, als Port–au–Prince noch eine Stadt von kolonialer Schönheit war. Eine Million Menschen haben die Stadt inzwischen in einen lärmenden und hektischen Treibhauskessel verwandelt. Die einstige Pracht läßt sich nur noch an wenigen Ecken erahnen, möglichst fern des stinkenden Abwasserkanals und der trüben Kloake am Hafen. In dem stinkenden Chaos und Menschengewühl kommen zu Dutzenden die „Tap–Taps“ - buntbemalte Kleinbusse - aus allen Gegenden Haitis an. Sie bringen täglich 700 neue Bewohner nach Port–au–Prince. Seit Duvaliers Sturz haben diese Landflüchtlinge 20 neue „Kanisterstädte“, wie „Bidonville“ wörtlich übersetzt heißt, aus dem Boden schießen lassen. Der Bürgermeisterin der Hauptstadt fällt dazu nur eins ein: sie drohte die Blechhütten mit Bulldozern niederwalzen zu lassen.