Selbstzüchtigung als Symbol der Unterwerfung

■ Am Samstag feierten die Schiiten im Libanon das traditionelle Ashoura–Fest. Zum Gedenken an den Todestag des Imam Hussein, der im Krieg um die Nachfolge Mohammeds ermordet wurde, üben sich die Gläubigen als Märtyrer / In Nabatieh im Südlibanon wird dabei noch echtes Blut vergossen, eine Tradition, die Ayatollah Khomeini schon lange verboten hat

Von Petra Groll

Nabatieh (taz) - Es geht rund um den Bolzplatz von Nabatieh, der auf der einen Seite von der Husseiniye, dem Versammlungsort der Schiiten, auf der anderen Seite von der Moschee begrenzt ist. Die aus Holzlatten eher recht als schlecht zusammen gezimmerten Tore markieren die Querseiten. Heute sind es die Männer, die in ihrem absonderlichen Aufzug beeindrucken: Lange Schals aus zerrissener Weißwäsche, schmale, weiße oder schwarze Stirnbänder, einige sogar mit provisorisch zusammengehefteten weißen Gewändern über der Uniform oder Jeans. Die Angehörigen der Hizballah erscheinen lediglich in den strengen schwarzen Trauergewändern, ihnen ist der nun folgende Ritus vom Ayatollah Khomeini verboten worden. Allen a nderen war am frühen Morgen knapp über dem Haaransatz eine kleine Stelle ausrasiert worden, eine halbe handtellergroße vielleicht. Die Frauen stehen schwätzend am Wegrand, auf der Terasse über dem großen Versammlungsraum der Husseiniye, überwiegend schwarz gekleidet, manche im bodenlangen Körperschleier, dem Tschador. Die Zelebration des höchsten schiitischen Feiertages Ashoura am Ende einer Moharam– Woche soll hier in Nabatieh, im Süden der libanesischen Berge, ganz besonders beeindruckend sein. „Sie fahren nach Nabatieh?“ hatte einer der Hotelangestellten gemeint. „Nehmen Sie es nicht so ernst. Das ist nicht das wirkliche Nabatieh. Dort sind die Hälfte der Leute Kommunisten, die so etwas nicht mitmachen.“ Die üblichen Kontrollen auf dem Weg von Beirut in den Süden, das ein oder andere Auto voll mit Männern, die sich für das Fest entsprechend gekleidet haben und auch auf dem Weg nach Nabatieh sind. Ab Saida wird das Auto alle paar Kilometer gründlich überprüft. Papiere, Kofferraum, teilweise noch Innenraum. Das Martyrium Das Zentrum von Nabatieh ist für Autos gesperrt, nur die vielen Ambulanzen dürfen bis an den Rand des Bolzplatzes. Um halb neun beginnt die Prozession zum Gedenken des Imam Hussein, der, als der blutige Bruderkrieg um die Nachfolge Mohammeds in der dritten Generation tobte, in Kerbala, im heutigen Irak, mit seiner kleinen Gefolgschaft von seinem Konkurrenten niedergemetzelt wurde. Im Martyrium des Hussein, im Gedenken seines Todes, versammelt sich der ganze Ethos der Schiiten. Ashoura, der Tag des Todes, wird überall gefeiert, wo Schiiten leben. Die erste Gruppe jugendlicher und kindlicher Männergestalten formiert sich vor der Husseiniyeh. Viele der weißgekleideten Jungen werden von ihren größeren Brüdern begleitet, von Vätern, aber einige halten auch ihre ältere Schwester oder Mutter an der Hand gefaßt, die allerkleinsten, noch keine zwei Jahre alt, werden sogr getragen. Messer und Schwerter werden ungelenk gschwenkt, heutzutage kämpft man schließlich mit Dynamit, Raketen und Kalashnikows. Die Schlachtemesser werden wohl scharf sein, die meisten anderen „Schwerter“ sehen eher aus wie überdimensionale Brieföffner. Einige dieser Symbolwaffen sind aber auch liebevoll dem Schwert des Ali nachgebaut, der der erste schiitische Imam war und dem die ihrem Glauben zufolge legitime Nachfolge des Propheten Mohammed abgegaunert wurde. Von der Husseiniyeh zieht die zweite Gruppe von Jungen und Jugendlichen los. Im verhaltenen Stakkato rufen sie die Namen ihrer Vorbilder, ihrer historischen Idole. „Haidar - Hassan - haidar - Hussein - haidar - Ali - haidar - Hussein“, bei jedem Namen ein Schlag gegen die Stirn. Trauer, Selbstzüchtigung als Zeichen der Unterwerfung unter widriges Schicksal. Wenig später langt die erste Gruppe wieder an der Husseiniyeh an, Blut auf der Stirn, den weißen Fetzen. Ali - haidar - Hussein - haidar, Schlag für Schlag gegen den blutenden Kopf. Damit es auch tatsächlich gleich blutet, haben einige der Erwachsenen den Kindern mit Rasierklingen die Kopfhaut angeritzt. Nein, kein Tierblut. Obwohl Theaterspezialisten behaupten, die Ashoura–Feier, seit Husseins Tod Jahr für Jahr begangen, sei die erste bekannte Aufführung eines Dramas in der islamischen Geschichte. Blutiger Ritus Viele der Kleinen blicken völlig verschreckt durch den Schleier des eigenen Blutes, schlagen sich aber tapfer weiter auf die gerissene Kopfhaut. Ali - Hussein - Haidar -, das Blut fließt, wird mit den weißen Fetzen abgetupft. Weiter, gezogen, geschoben, gestolpert, schnellen Schrittes. Ein Schritt, ein Schlag, Hassan - Haidar - Ali - Haidar - Hussein - Haidar. Hier und da hilft die Hand des großen Begleiters nach, wenn die jungen vergessen, sich gegen die Stirn zu schlagen. Aus den Lautsprechern vor der Husseiniyeh ertönt mittlerweile die Geschichte Husseins. Die Einkesselung durch die Übermacht der Verfolger, der Anhänger des (nach Ansicht der Schiiten) unrechtmäßigen Kalifen Yazid. Nicht einmal einem Baby–Sohn Husseins gestanden sie Wasser zu, sondern schossen ihm einen Pfeil in die kleine Brust. Schauerliche Überlieferung, blutig in die Gegenwart geholt. Aus den umliegenden Dörfern sind die Menschen zur Ashoura– Feier gekommen. Immer mehr Jugendliche reihen sich in die Prozession ein. Schon laufen Sanitäter mit Tragbahren neben dem Zug her. Hussein - Haidar - Ali - Haidar , die ersten Ohnmächtigen werden abtransportiert, sind aus dem Rennen. Immer wieder drehen sie die Runde um den Sportplatz, immer neue kommen dazu. Blut spritzt auf die Zuschauer, die sich um die feinen Hemden sorgen. Immer wieder malträtiert, platzt die Kopfhaut weiter auf, wird zur Wunde. So manches Knabengesicht blickt schon irre, blutüberströmt, schmerzverzerrt, verhangene Augen. Leiden. Die Begleiterinnen muntern auf und führen weiter. Die Sonne ist über die Berge gestiegen und prallt vom gnadenlos blauen Himmel. Die Luft hat das Blut aufgenommen, süßlich schwere Wolken verdampfenden, frischen Blutes. Schweiß, Angstschweiß. Leuchtend rote Handflächen. Hussein - Haidar - Ali - Haidar - Hassan - Haidar. Zur Belohnung eine Tüte Ananassaft, ein Keks zwischen die blutigen Lippen geschoben. Stolz in die mütterlichen Arme geschlossen. Das blutverschmierte Weißzeug endlich als Verband um den kleinen Kopf geschlungen. Ekstase bei den Halbstarken, kein weißes Fleckchen mehr auf den Wäschefetzen. So mancher Blutstropfen versickert in der Erde. Einige tausend Menschen sind es mittlerweile. Wer zählt noch die Runden? „Gott ist groß“ Platz da, Platz da, signalisiert eine Trillerpfeife. Die Bahren der Sanitäter sind schon blutdurchtränkt. Ein vielleicht Zehnjähriger, Blutverband um den Kopf, steht mit stolz leuchtenden Augen am Rande. Das Rambo–T–Shirt mit getrocknetem Blut wie eine Damasttischdecke gestärkt. Er saugt genüßlich an seinem Strohhalm. Die Älteren können den Griff zur Kippe nicht lassen. Kaum noch Kinder jetzt. Die letzten bestimmt schon in der zehnten Runde. Weiter tönt die Lautsprecherstimme Husseins Martyrium über den Platz. Weiter schlagen sie mit den Handflächen - und wer hat, mit der flachen Seite des Schwertes. Immer wieder auf die geschundene Haut. Es darf nicht aufhören zu bluten. Schließlich ein in ordentlichen Reihen organisierter Block junger Männer. 20, 30 Jahre alt. Sie dürfen nicht fotografiert werden, tragen das grüne Stirnband. Kämpfer Allahs, Djihad, Heiliger Krieg, zukünftige Märtyrer. Wir sind im Libanon, nahe der von Israel besetzten Zone. Haidar - Hussein - Haidar - Ali - Haidar - Hassan. Allah akbar. Gott ist groß. Für dich, oh Hussein, mein Leben will ich geben an deiner Statt. Ein Schlag auf den Brustkorb, Allah akbar, dumpfer Ton, auf vielleicht 30 Körpern verstärkt. Den Kämpfern der Hizballah hat der Ayatollah Khomeini verboten, ihr Blut unnütz zu vergießen. Schließlich die Männer von Nabatieh. Die Zuschauermenge drängt mittlerweile zur Bühne, vor der Moschee, am Rand des Sportfeldes. Eine Schauspielertruppe drängt nach vorn. „Wer seine Swatch verloren hat, der kann sie hier abholen“, tönt es plötzlich, ohne Rücksicht auf die noch immer rennenden und schlagenden Männer, aus dem Bühnenlautsprecher, der geschickt auf dem Höcker eines mitwirkenden Kamels festgezurrt ist. Das Martyrium Hussein soll noch einmal ins Bild gesetzt werden, sobald die blutige Prozession rund um den Sportplatz ihre letzte Runde gedreht hat. Fliegende Händler zählen schon die ersten Tageseinnahmen. Das Publikum, unüberschaubare Masse blutig–schwarzer Menschen drängt zur Bühne. Das Schauspiel kann beginnen.