Indiens Marsch ins Konsumzeitalter

■ Nach jahrelanger Abschottung von westlicher Werbung und westlichen Waren verfallen die neuen Mittelschichten jetzt in einen wahren Kaufrausch / Marktforscher haben 100 Millionen Konsumenten entdeckt, denen sie zu materiellem Glück verhelfen können / Konsum als Statussymbol in der Kastengesellschaft

Aus New Delhi Uwe Hoering

Wer heute nach einigen Jahren Unterbrechung wieder nach Indien kommt, der staunt nicht schlecht. Rund um New Delhis Einkaufzentrum Connaught– Place haben poppige Modegeschäfte und Schuhboutiquen eröffnet, neue Motorroller, japanische Motorräder und Maruti– Kleinwagen preschen in haarsträubendem Tempo durchs Verkehrsgewimmel, Fernsehgeräte, Digitaluhren und Küchengeräte füllen die Schaufenster, Mode– und Computerzeitschriften liegen bei den Straßenhändlern ganz vorne. Vorbei sind die Zeiten, als Traveller ihre Reisekasse mit dem Verkauf von Armbanduhren, Jeans und Kamera–Ausrüstung kräftig aufbessern konnten. Enttäuschung macht sich breit bei aus Europa Heimkehrenden, denen noch vor zwei, drei Jahren bei „Gartenverkäufen“ der angeschrammte Herd und das angeschlagene Porzellan zu Fantasiepreisen förmlich aus den Händen gerissen wurden. Die Familie des Kleinindustriellen Jasbir Singh, der in einem Hinterhof in Delhis Altstadt importierte Elektronikbausätze zusammenbauen läßt, ist ein typisches Beispiel für den neuen Konsumerismus. Die Familie Singh hat gerade ihren vier Jahren alten Schwarz–Weiß–Fernseher gegen ein neues Farbgerät getauscht. Es stört sie nicht, daß die Herstellerfirma - nicht gerade nationalbewußt - wirbt: „An diesem Gerät ist nur eines indisch - der Name.“ Im Gegenteil, ausländisches Gut, selbst wenn es im Land zusammengebastelt wurde, hebt den Prestigewert. Zum Kühlschrank, der stolz mitten im Singhschen Wohnzimmer steht, hat sich in der Küche ein neuer Herd gesellt, farbig und chromblitzend, mit eingebautem Backofen. Der Schnellkochtopf und das Mixgerät, vor wenigen Jahren noch nahezu unerschwinglich, sind für Frau Singh längst unentbehrlich. Dafür hat sie heute keine Haushaltshilfe mehr, seit die alte zu ihrer Familie aufs Dorf zurückging. Und auch der Frau, die unter dem großen Baum an der Straße mit ihrem schweren Holzkohlenbügeleisen Saris und Oberhemden bügelt, geben sie nur noch selten etwas runter, seit Frau Singh ein eigenes elektrisches Bügeleisen hat. Unten vor dem Apartmenthochhaus, in dem Familie Singh zur Miete wohnt, steht ein brandneuer Bajaj–Motorroller, der Sohn des Hauses hat zu seinem letzten Geburtstag einen Cassettenrecorder geschenkt bekommen. Die neuen Mittelschichten Ähnlich wie die Singhs lebt eine wachsende Zahl erfolgreicher Geschäftsleute, Händler, Kleingewerbetreibender, Exporteure, Taxi– und Transportunternehmer, Ärzte und Rechtsanwälte, die in den letzten Jahren zu bescheidenem Wohlstand, oft ergänzt durch viel Schwarzgeld, gekommen sind. Aber auch viele Gruppen mit festem Einkommen (wie Angestellte und qualifizierte Fabrikarbeiter) konnten ihre Kaufkraft steigern. Selbst in den ländlichen Regionen sind mit modernen Anbaumethoden und verbesserten Absatzmöglichkeiten die Einkommen so manches Mittelbauern gestiegen. Der Anteil dieser neuen Mittelschichten an der Gesamtbevölkerung wird auf nicht mehr als zehn bis 15 Prozent geschätzt, doch ihre Macht ist ihre Zahl: 80 bis 100 Millionen prospektive Konsumenten. Die Regierung kam deren mit zunehmender Kaufkraft wachsenden Wünschen und Bedürfnissen mit einer Reihe von Import– und Steuererleichterungen für die Hersteller von Konsumgütern entgegen. Noch bis Anfang der 80er Jahre wurde der private Konsum im Interesse des Aufbaus der Schwer– und Grundstoffindustrien und der Infrastruktur eher als „Luxus“ betrachtet und dementsprechend mehr behindert als gefördert. Jetzt verdoppelte sich der Absatz von Kühlschränken innerhalb von vier Jahren auf 600.000 Stück pro Jahr, bei Mopeds und Motorrollern verdreifachte er sich auf eine Million. Wurden 1981 erst 120.000 Fernsehgeräte produziert, so werden es in diesem Jahr mehr als drei Millionen sein. Noch ist vieles schlechte Imitation - wie etwa die Blusen italienischer Modemarken oder die berühmten Sportschuhe mit den drei Streifen, made in Old Delhi. Noch ist oft nur die Verpackung up to date, nicht aber Inhalt und Technologie. Doch ein Ende dieses Booms, der das gesamtwirtschaftliche Wachstum weit in den Schatten stellt, ist nicht in Sicht. Nichts ist der neu entdeckten Konsumwut heilig. Cola und Hamburger gegen Curry Das mußte zum Beispiel Mohan Ram erfahren, der seit Jahren ein kleines Dhaba in einer der Seitenstraßen von Connaught–Place betreibt. In seinem einfachen Imbiß– Restaurant mit vier groben Holztischen und -bänken serviert er Pakoras, fritierte Snacks, gefüllt mit Gemüse oder Paneer, dem indischen Frischkäse, außerdem Reis oder chapatties, Fladenbrote, mit verschiedenen Gemüsecurries und Dal, dem allgegenwärtigen Linsenbrei. Doch seit schräg gegenüber eine Filiale der Schnellimbißkette Pizza King aufgemacht hat, muß er mitansehen, wie viele der Büroangestellten, Verkäufer und Kassiererinnen aus den umliegenden Banken und Geschäften sich in ihrer Mittagspause um die neue Attraktion drängen. Auch sein Nachbar, der chai–wallah, bekommt zu spüren, daß Campa–Cola oder Sprite eine größere Anziehungskraft ausüben als sein Tee mit Milch und viel Zucker. In vielen mittelständischen Einkaufszentren und modernen Geschäftsvierteln der Großstädte taten sich neue Imbißstuben auf oder rollen neuerdings Imbißwagen an, die „indisierte“ Varianten von Pizza, chinesischen Frühlingsrollen, Hamburgern, Hot Dogs und Sandwiches offerieren. Mit der ersten indischen „Wimpy“–Filiale gelang es gar vor einem guten Jahr, dem echten Hamburger–Imperialismus die erste Bresche in die Reis– und chapatti– Hochburg zu schlagen, nachdem der herkömmliche Rindfleischkloß aus Rücksicht auf religiöse Empfindungen zum Hammelkloß „indisiert“ worden war. Anders als die Römer, die gegen MacDonalds erste Futterkrippe im Zentrum der Ewigen Stadt Sturm liefen, protestierten weder die überzeugten Chilli– und Curry–Anhänger noch eingefleischte Vegetarier gegen den Vormarsch der westlichen Fastfood–Kultur. Kaum jemand zweifelt, daß Indien in Kürze den Rückstand gegenüber Indonesien, Ma laysia, Ägypten und vor allem dem Erzfeind Pakistan aufgeholt haben wird, wo jeder Einwohner 20– bis 40mal so viel Erfrischungsgetränke konsumiert. Auch in vielen Küchen, den geheimen Zentren kultureller Traditionen, hat die moderne Lebensmittelindustrie Einzug gehalten. Wer es sich leisten kann, braucht nicht mehr stundenlang frische Gewürze für die hauseigene Currymischung zu mahlen oder selbst die scharfen und süßen Beilagen, Pickles und Chutneys einzumachen, Berge von Gemüse und frischen Kräutern für Curries zu schnibbeln oder lange Kochzeiten vor dem schweren, unpraktischen und nicht ungefährlichen Gaskocher in Kauf zu nehmen. Maggis Zwei–Minuten–Nudeln, fertige Curry–Mischungen, Fertiggerichte in Dosen, Konserven, Instant–Getränke, süßer Joghurt und andere Nachspeisen in attraktiven Töpfchen, H–Milch und Ketchups erleichtern neuerdings, gemeinsam mit Mixgerät und Schnellkochtopf, die Küchenarbeit - ein Kulturverfall zwar, doch angesichts schlecht ventilierter Küchen und sommerlicher Hitze von vielen erwerbstätigen Frauen als Fortschritt begrüßt. Am sichtbarsten strahlt der neue Glanz der Warenwelt im Leben der oberen städtischen Mittelschichten, doch auch Fabrikarbeiter oder mittlere Angestellte schaffen es häufiger, einen Teil ihres Einkommens für ein Transistor– oder Fernsehgerät abzuzweigen. Und die praktisch veranlagten Punjabi–Bauern - so wird in Delhi gewitzelt - nutzen die neue Waschmaschine angeblich zum Buttern. Statussymbole gegen Kastengesellschaft Der Ausblick ins Konsumzeitalter, der sich, wenn auch vergleichsweise spät, in den vergangenen drei, vier Jahren so vielversprechend aufgetan hat, eröffnet den kaufkräftigen Bevölkerungsgruppen nicht nur die Perspektive, bequemer und komfortabler zu leben. „Haste was, dann biste was“, die Lebensphilosophie gesellschaftlicher Aufsteiger, kann heute leichter als je zuvor verwirklicht werden. Praktisch über Nacht sind Status und soziales Ansehen käuflich geworden, öffnen sich zahllose Wege, beruflichen Erfolg und neues Selbstverständnis demonstrativ für alle sichtbar auszudrücken. Trotz ihres wirtschaftlichen Erfolgs, trotz Bildung und Leistung bleiben die modernen Mittelschichten doch zunächst eine verschwindende Größe in der Hackordnung gesellschaftlichen Ansehens. Dort dominierten die Werte der traditionellen Kastengesellschaft, die gesellschaftlichen Rang und soziale Position eben nicht nach individueller Leistung, sondern nach Geburt und rituellem Rang verteilt. Daneben hatte sich die „moderne Kastengesellschaft“ der Beamten, Politiker und alteingesessenen Unternehmerfamilien etabliert. In der Imitation von westlichem Lebensstil, Wohn– und Eßkultur, in Freizeitvergnügen und Reisen, finden die modernen Mittelschichten ein wenig Ersatzbefriedigung und eine Bestätigung des eigenen Erfolges. Individualisierte Normen und Werte bekräftigen das Selbstbild. Haben sich viele Angehörige der neuen Mittelschichten durch Beruf und Bildung, durch Mobilität und die Auflösung der Großfamilie längst aus dem Wertesystem der traditionellen Kastengesellschaft gelöst, so bieten die neuen Werte der Konsumgesellschaft endlich den dazu passenden Überbau, der die „neue Kaste“ der modernen Mittelschichten auszeichnet und abgrenzt - natürlich auch gegen die erfolg– und hoffnungslosen Habenichtse, die noch auf Jahrzehnte hinaus auf Hamburger, Fertiggerichte, Kosmetika und Urlaubsreisen werden verzichten müssen. Waren für die erste Generation nach der Unabhängigkeit Staudämme und Kraftwerke Jawaharlal Nehru die „Tempel des modernen Indiens“, so sind es für die neue Generation Eisdielen und Videogeschäfte. Hunger macht Freude Die Werbung hilft mit, die bereits brüchig gewordenen traditionellen Gewohnheiten im Interesse des Profits weiter zu schwächen. Doch seitdem immer neue Produkte auf den Markt kommen, seit sich die Zahl der Erfrischungsgetränke, der Waschmittel, der Schalenkoffer, der Motorroller, der Fernseh– und Mixgeräte, der Jeans, Kekssorten und Speiseöle ständig vergrößert, haben die Unternehmer die Werbung entdeckt. Noch vor kurzem war sie grau und unbedeutend. Der Frontalangriff auf die Konsumgewohnheiten wurde durch die (relativ späte) „Erfindung“ des kommerziellen, durch Werbung finanzierten Fernsehens vor knapp zwei Jahren noch um ein Vielfaches verstärkt. Wachsende Werbeetats vieler Unternehmen verhalfen nicht nur einer bunten Palette von Hochglanzzeitschriften auf die Beine, die mit Mode, Video, Computern, Motorrädern, Kosmetikberatung, Reisetips, Kochrezepten usw. auf die kaufkräftige Kundschaft zielen, sondern auch Dutzende von Fernsehserien, Familiengeschichten, Krimis, Komödien, Musikprogramme, eingerahmt und unterbrochen von Werbeeinlagen. Überflüssig zu sagen, daß das bunte, rasante, dynamische und zunehmend sexistische Bild einer neuen Welt, das die Konsumwerbung auf Farbseiten und in Werbespots entwirft, in einem Kontrast zur vorherrschenden gesellschaftlichen Wirklichkeit steht. So verspricht das Fruchtsaftgetränk Paloma, man sei nach Genuß desselben „glücklich, Durst gehabt zu haben“. Und das, während Millionen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser haben. Während viele nicht wissen, woher sie die Mahlzeit für den nächsten Tag bekommen, verkündet Nirulas Schnellimbiß, daß es - Nirula sei Dank - „Spaß macht, hungrig zu sein“. Große Plakatwände vor Slums werben für frische, luxuriöse Wandfarben und neue Teppiche, und während Millionen an Unterernährung und Mangelkrankheiten leiden, verspricht die Schlankheitsmethode „Body Wrap“ Gewichtsreduktion innerhalb einer Stunde, ab 1.500 Rupies aufwärts. Und jedem dritten Produkt kleben die professionellen Sprüchemacher das Etikett „Luxus“ auf, Luxus–Seife, Luxus–Stoffe, Deluxe–Motorroller... Noch ist ungewiß, ob die indischen Konsumenten das halten können, was sich die Marktstrategen von ihnen versprechen, die Indien neben China als den letzten großen Markt für Konsumgüter ins Visier genommen haben. Der Kampf zwischen Hamburgern und Pakoras, die Werbeschlacht um die Konsumenten haben den Prozeß gesellschaftlicher Umwälzung um eine neue, machtvolle, schillernde Variante bereichert, die sich als wirksamer erweisen könnte als die islamischen Erobererheere, die koloniale Unterwerfung und die christlichen Missionare zusammengenommen.