Verwaltung zwischen Chaos und Kreativität

■ Italiens Verwaltungschaos kann auch seine kreativen Seiten haben / Ein absurdes Auswahlverfahren bei der Besetzung öffentlicher Stellen führt zu Inkompetenz und Ignoranz der Administratoren

Aus Rom Werner Raith

Salvo Ando, Bürgermeister von Messina auf Sizilien, fallen nur noch Worte ein, die nicht mehr druckreif sind: „Willkür“, „Schweinerei“, „Hinterhältigkeit“ sind noch die zahmeren davon: Er spricht von der staatlichen Energiebehörde ENEL. Denn die hat seiner Stadtverwaltung am vergangenen Mittwoch den Strom abgestellt - wegen angeblicher Schulden in Höhe von umgerechnet fünf Millionen DM. „In Wirklichkeit hatten wir lediglich um die Überprüfung der letzten Rechnungen gebeten, bei denen manches unklar war.“ Ich bin also nicht in schlechter Gesellschaft: auch mir haben sie den Strom abgedreht - und dies, obwohl ich ein Guthaben von über 400.000 Lire bei der ENEL habe, entstanden bei einer früheren widerrechtlichen Sperre, als man die Buchung des zwei Monate zuvor eingezahlten Betrags „vergessen“ hatte. Den Beamten, bei dem ich mich beschwere, beeindruckt das freilich überhaupt nicht. Zunächst einmal: ich habe mich zwar brav angestellt, aber, weil unwissend, keine Nummer aus einem kleinen Wandapparat gezogen. Also zurück nach hinten. Meine Beschwerde, bescheidet er mich, als ich mit Nr. 79 an die Reihe komme, ist sowieso hier fehl am Platze - dafür sei die Zentrale in Latina zuständig. Die allerdings weiß auch nicht weiter - das Geld wird schon irgendwann zurückerstattet werden. Wichtig auch hier: Anstellen nach Nummernzetteln - es ist der letzte Schrei, eine Art Machtinstrument der italienischen Beamten, von denen derzeit landauf landab nichts sonderlich Gutes zu hören ist. Von der politischen Verwaltung (zu Hunderten sitzen Stadträte und Bürgermeister im Kittchen) über die Justizbehörden (denen Amtsmißbrauch in Massen vorgeworfen wird) bis zu den „piccoli uffici“ in Städten und Dörfern, wo Filz und Inkompetenz regieren, sind Italiens Beamte unter schweren Beschuß geraten. „Dabei kommt alles nur davon“, sagt mir der Mann bei der ENEL, „weil gut 60 Staatsdiener nicht für die Posten qualifiziert sind, auf denen sie sitzen.“ Der Grund dafür liegt im italienischen Besetzungssystem offener Stellen. Je höher der Posten dotiert ist, umso sicherer nehmen sich die Parteien seiner an - „lottizzazzione“ nennt man das. Die Rathausparteien - derzeit fast überall vier bis fünf an der Zahl - teilen die Stellen untereinander auf; damit die Opposition ruhig ist, bekommt sie meist auch noch einen Knochen. So kann es passieren, daß z.B. die kleine Liberale Partei den städtischen Gesundheitsdirektor bekommt - aber keinen Fachmann dafür anbieten kann. Also wird ein anderer verdienter Parteimensch lanciert; daß sich damit die Amtsqualifikation nicht gerade hebt, daß sich Inkompetenz nach unten fortpflanzt, ist verständlich. Früher wurden auch die unteren Chargen nach einer Art Klientelsystem vergeben; mittlerweile müssen aber solche Stellen allesamt ausgeschrieben werden. Qualifikationstests entscheiden schließlich über die Eignung der Bewerber. Doch was als Rammbock gegen die „lottizzazzione“ gedacht war, hat die Misere allenfalls verstärkt; da bei den Wettbewerben jeder, ungeachtet seiner Qualifikation, mitmachen darf, drängeln sich oft bei den Tests Zigtausende. Für 800 Plätze im Finanzbereich nahmen z.B. vorige Woche mehr als 300.000 Personen teil. Da die Tests kaum Rückschlüsse auf die fachliche Qualifikation der Bewerber zulassen, rücken nun vor allem Leute in die Ämter ein, die lediglich wegen ihrer notorischen Arbeitslosigkeit teilgenommen, aber zum Beruf weder qualitativen noch affektiven Bezug haben. Von ihrer Arbeit verstehen sie mitunter recht wenig; und so wird jeder, der die Amtsstube betritt, zunächst zumindest als Störenfried, mitunter gar als Feind angesehen. Begegnet der deutsche Beamte dem „Publikum“ von der hohen Warte seines Durchblicks bei Formularen und Vorschriften, so bildet der italienische Beamte eine abweisende, aus Angst vorm Gefordertsein entstandenen Hochmut aus. Auslän der beziehen das sehr leicht auf sich - so wie jene dänische Lehrerin, die sich Anfang der Woche in einem Leserbrief bei La Repubblica beschwerte: „Früher habe ich meinen Freunden und Verwandten zu Italien geraten; jetzt tue ich es nicht mehr: Nicht, weil hier nichts funktioniert, alles in Chaos endet, sie einem das Fell über die Ohren ziehen, sondern wegen der Hochnäsigkeit und Arroganz der Beamten.“ Tatsächlich wird so mancher ans Umkehren denken, wenn er der mürrischen Miene des Aufnahmearztes im Krankenhaus begegnet oder der gerunzelten Stirn des Carabinieri, dem man einen Diebstahl meldet. Ignoranz ist freilich nicht der alleinige Grund für Disfunktion - gerade dort, wo Kompetenz herrscht, gibt es mitunter haarsträubende Fälle. Wie etwa bei jenem Strafgefangenen, dessen Unschuld sich im Juli nach fünf Jahren herausstellte, und der dennoch weiter einsitzt, weil der zuständige Staatsanwalt partout in aller Gemütsruhe die Freilassung vorbereiten will. Doch das System, so chaotisch es ist und so viel böse Willkür es produziert, hat auch noch eine andere Seite: Die Tatsache, daß die Ämter nicht mit lauter Profis besetzt sind, läßt auch unorthodoxe Lösungen zu. So wurde das radikalste Landschaftsschutzgesetz Europas (das „Decreto Galasso“) von einer Handvoll Nichtjuristen unter Leitung eines Historikers erarbeitet. Und auch dort, wo harte Gesetze und Vorschriften walten, ist Italiens Bürokratie längst nicht so hart, wie sie sich gibt: Lösungen unter der Hand walten vor. Wer den Beamten klarmacht, daß man auf ihre Hilfe angewiesen ist, bekommt sie, und manche Reform wäre nicht zustandegekommen, hätten die traditionellen Profis die Ämter besetzt. „Wären die zuständigen Stellen der Gesundheitsämter in den 70er Jahren nur mit den genormt–qualifizierten Ärzten besetzt gewesen“, sagt Paolo Crepet, Koordinator der psychiatrischen Dienste in Rom, „wäre die offene Psychiatrie nie vorangekommen.“ So aber rückten - unerhört bis dahin - Psychoanalytiker und Behindertenpädagogen in die „Unita Sanitaria Locale“ ein und krempelten das System an vielen Stellen erfolgreich um. Manchmal sind die unorthodoxen Lösungen freilich auch so, wie man sie sich im Italien–Klischee vorstellt: meinen Strom zum Beispiel bekomme ich blitzschnell wieder, obwohl der Beamte zuerst von „Tagen“ gesprochen hat, „die das dauern kann“: Ich lasse durchblicken, daß ich in zwei Stunden ein Telefoninterview mit dem Fußballpräsidenten Carrarro machen muß. Hätte ich „Staatspräsident“ gesagt, wäre die ENEL möglicherweise nicht so schnell wachgeworden - aber beim Fußball ist das eben doch anders.