„Kronzeugenkultur“ zerschlagen?

■ Nach dem Freispruch für den der Camorra–Mitgliedschaft angeklagten Star–Showmaster Enzo Tortora hoffen nun Justizkritiker auch auf ein Umdenken in politischen Verfahren

Rom (taz) Das Urteil im neapolitanischen Camorra–Prozeß kann Signalwirkung haben - auch in die falsche Richtung. Zwei Tage sind seit dem sensationellen Camorra–Urteil von Neapel vergangen; die Überraschung hat sich gelegt und es zeigt sich : Alle, oder fast alle, sind zufrieden: Star– Showmaster Enzo Tortora, der vom Verdacht der Camorra–Mitgliedschaft wegen erwiesener Unschuld freigesprochen wurde; die Radikale Partei - deren Präsident er mittlerweile ist - weil sie den richtigen Riecher hatte (auf ihre Liste wurde er zum Europaabgeordneten gewählt und damit aus den Knast herausgeholt); die Sozialisten, die schon lange etwas gegen die aktuelle Strafjustiz in Italien haben (speziell seit eifrige Staatsanwälte auch Regierungschef Craxis Freundschaft zu dunklen Finanziers untersuchen wollten); die Christdemokraten, die nun blauäugig, weil ausnahmsweise nicht betroffen, „die Revision der Notstandsgesetzgebung der siebziger Jahre“ fordern; die Kommunisten, die vor allem bemerken, „daß das Urteil ein funktionierendes Rechtssystem anzeigt“. Sogar der Staatsanwalt sieht sich bestätigt: Zwar hatte er sechs Jahre für den erstinstanzlich zu zehn Jahren verurteilten Enzo Tortora gefordert, aber dazu gesagt: „Wenn Tortora unschuldig ist, dann sind alle hier Angeklagten unschuldig.“ So kams denn auch - alle, oder fast alle, waren nach Ansicht der neapolitanischen Richter freizusprechen, 113 von 191 Angeklagten (schwere Strafen gab es auch für den Rest nicht). „Die Gerechtigkeit hat gesiegt“, tönt der PSI–Vize Claudio Martelli, und einig sind sich alle: Mit dem Urteil wurde erstmals die Kultur des „pentitismo“ in Stücke gehauen, die Rechtsprechung aufgrund der Aussagen „reuiger“ Kombattanten gewalttätiger Gruppen (denen das Gesetz mächtigen Strafnachlaß verspricht). Jubel daher auch bei vielen linken und liberalen Intellektuellen: Sie sehen nun rosige Zeiten und Freisprüche gar für viele politische Gefangene kommen, die ebenfalls größtenteils ausschließlich aufgrund von „Kronzeugen“–Aussagen verurteilt wurden. 1979 war - unter dem heutigen Staatspräsidenten Francesco Cossiga, damals Innenminister - erstmals eine Reihe von Gesetzen erlassen worden, die Ex–Rotbrigadisten und andere Militante durch große Strafrabatten zur Zusammenarbeit mit den Behörden ködern sollten; später waren die Normen nach und nach auch auf kriminelle Banden vom Schlage der Camorra und der Mafia angewandt worden. Muß nun alles revidiert werden, nachdem die Richter „den pentiti ohne weitere Beweismittel keinerlei Glauben geschenkt haben“, wie der Beisitzende Richter wörtlich erklärt hat? Euphorie wäre verfehlt Die allgemeine Euphorie ist zumindest bei den Politischen wohl kaum angebracht. Im Unterschied zu den großen Camorra– und Mafia–Prozessen sind die meisten Verfahren gegen Rotbrigadisten und Prima–Linea–Leute bereits rechtskräftig abgeschlossen. Da wird kaum mehr etwas zu machen sein; allenfalls die lange versprochene Amnestie könnte hier auf dem Gnadenweg Justiz ersetzen. Doch die allgemeine Euphorie speziell über den Freispruch des Enzo Tortora täuscht noch über viel mehr hinweg, vielleicht sogar über fast alles, was diesen Prozeß und die Urteilsfolgen kennzeichnen sollte. So hat die ausschließliche Konzentration der Medien auf den Kollegen Tortora das Problem Camorra völlig verschwinden lassen - und auch die Lage derer, die da noch unschuldig hinter Gittern saßen. Tortora wird wieder beim Fernsehen für viel Geld arbeiten; ein roter Jaguar steht schon vor seiner Tür. Und die anderen 112? Was wird aus ihnen? Ihre Existenz wurde, wie es nun heißt, willkürlich zerstört - der Staat zahlt keine Lira dafür. Ein Volksbegehren zur Justizreform ist im Gange, wo auch diese Frage gelöst werden soll, aber gerade für dieses Referendum, das die Radikale Partei, Sozialisten und andere Gruppen initiiert haben, könnte sich der Freispruch zum Rohrkrepierer wandeln. Schon sagt z.B. Luciano Violante, stellvertretender Vorsitzender des Justizausschusses: Seht nur, die Gerechtigkeit setzt sich auch im bisherigen System durch, lassen wir es also, wie es ist. Kaum jemand vergegenwärtigt sich auch, daß die „Zertrümmerung“ der „Kronzeugenkultur“ gerade nicht in einem politischen Prozeß geschah, sondern in einem gegen das organisierte Verbrechen. Tortora war durch ausgewiesene Camorristen angeschuldigt worden: Nach dem Freispruch wird zu fragen sein, wer dieses Szenarium verfaßt hat, und warum. Ganz sicher hat der Staatsanwalt recht, der da lapidar sagte: „Die Camorra hat gewonnen.“ Beruht der Freispruch auf einer schlichten Verkennung der Tatsachen, hat die Camorra ihren Rauschgifthandel jedenfalls gut abgedeckt. Beruht es auf Angst vor den Gangstern, auch gut für die Banden. Sind die „Kronzeugen“ wirklich Lügner gewesen, können sie nur von der Camorra selbst geschickt worden sein, um eben die Beweiskraft von „pentiti“ ein für allemal zu zerstören. Und das zumindest scheint gelungen. Der Beifall, der aus den Zellen des gleichzeitig laufenden Super–Prozesses in Palermo sofort nach Bekanntwerden des Urteils tönte, läßt keinen Zweifel zu: Die überwiegend von „pentiti“ in Bedrängnis gebrachten „Ehrenwerten Herren“ sind es vor allem, die da neue Hoffnung schöpfen können. Der allgemeine Jubel sollte nicht verdecken, daß mit der fehlgegangenen Massenanklage gegen die Camorra auch ein Kampf um viele Menschenleben verloren sein mag; und wer die eher nach Gießkannenart erfolgten Freisprüche als reinen Sieg der Gerechtigkeit ansieht, hat sicher niemals auch nur eine der zerstückelten und massakrierten Leichen gesehen, die Neapels Landschaft wöchentlich kennzeichnen (durchschnittlich jeden Tag mindestens ein Mord): Leichen von kleinen Dealern und nur selten von großen Bossen, Leichen auch von sechsjährigen Kindern, deren Eltern man zum Drogentransport pressen wollte. Daß es der Camorra gelungen ist, mit Tortora einen Superstar in ein Verfahren zu ziehen, über das sich die gesamte Medienwelt empören würde, läßt auf die völlig intakte Struktur dieser Organisationen schließen - und auf eine geniale Planung zur Zerstörung des bisher einzig gefährlichen Instruments zur Störung organisiert krimineller Geschäfte. Werner Raith