Das polnische Regime am Scheideweg

■ Die Amnestie der politischen Gefangenen läßt auf eine Liberalisierung des Regimes hoffen Opposition bleibt skeptisch und wartet ab / Von Eva Rupplowa und Theo Rüppeli jr.

Bedeutet die Amnestie einen ersten Schritt auf dem Weg zu politisch unabhängigen Gewerkschaften oder gar der Wiederzulassung von Solidarnosc, oder ist sie nur der Beweis der Stärke einer Regierung, die sich sicher im Sattel weiß. Oder ist sie nur ein Trick, um im Westen ein Regime mit menschlichem Gesicht zu präsentieren? Es tut sich wieder was in Polen, auch an der Basis.

Als sich die Gefängnistore öffneten, waren die meisten der über zweihundert politischen Gefangenen in Polens Gefängnissen überrascht. Der Leiter der Untergrundführung von Solidarnosc, Zbigniew Bujak, dessen Verhaftung noch im Juni von den Behörden als der „empfindlichste Schlag“ gegen die Opposition gewertet wurde, verstand die Welt nicht mehr. „Ich weiß nicht, warum ich freigelassen wurde“, erklärte er. Der Polizeioffizier hat dreimal wiederholt: „Es ist der General Jaruzelski persönlich, der so entschieden hat. Sie werden sich fügen müssen.“ In vielen Kirchen des Landes läuteten die Glocken, Menschen strömten hinein und legten Blumen zu riesigen Kreuzen. In der Warschauer Josefskirche versammelten sich über 3.000 Personen, um einige der Freigelassenen zu begrüßen. In Breslau warteten viele vergeblich auf das Erscheinen „ihres“ Solidarnosc–Führers, Wladislaw Frasyniuk. Der zog es nach den langen Monaten im Gefängnis doch erst einmal vor, mit seinen Familienangehörigen und den engsten Freunden zu feiern. Die Freude über die Amnestie war ungeteilt. „Ich glaube, dies ist der erste Schritt, den ich uneingeschränkt begrüßen kann“, sagte der Breslauer Solidarnosc–Leiter Josef Pinior, „doch wenn sich in Polen etwas zum Besseren wenden soll, dann bedarf es nicht nur einer Generalamnestie, sondern noch weiterer wichtiger Liberalisierungsschritte“. An die mögen allerdings die meisten politischen Aktivisten im Lande kaum glauben. Es hätte ja schon mehrere Amnestien gegeben, und danach wären die Leute doch wieder verhaftet worden, wird argumentiert. Die Frage nach den Möglichkeiten von grundsätzlichen Veränderungen des Regimes zu stellen, ruft bei manchen Verwunderung hervor. Kein einziges Gesetz sei bisher geändert worden, das Regime könne nach wie vor jeden verhaften, die unkontrollierte Ausübung der Macht sei ungebrochen. Wenn man nach den letzten Äußerungen des Generals oder seines Innenministers ginge, dann wäre es auch tatsächlich zu früh, Hoffnungen auf einen Wandel in Polen zu hegen. Innenminister Kiszczak erklärte, man werde zwar „Geduld, Ruhe und guten Willen zeigen, auf Passivität und Toleranz dürften die Gegner nicht hoffen“. Und der General warnte davor, „neue streitsüchtige, antistaatliche Gruppen zu bilden“. Wer dies trotzdem täte, „muß wissen, daß Recht nicht wie Gummi dehnbar ist“. Diese Aussagen sind deutlich genug: Ihr seid jetzt frei, aber bei der Wiederaufnahme politisch– oppositioneller Tätigkeit droht euch wiederum die Verhaftung. Doch gibt es auch Anzeichen, die in eine andere Richtung gehen. Selbst die Partei und die militärische Führung wissen, daß das Regime keinen Ausweg aus der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise zu weisen vermag. Die Partei ist anders als in der DDR oder CSSR nicht in der Lage, eine Zukunftsperspektive für das Land zu entwickeln, zu sehr sind die verbliebenen Mitglieder auf reine Machterhaltung ausgerichtet. Die polnischen Kommunisten verteidigen nur noch ihren eigenen Tellerrand, die mageren Privilegien in einer Mangelgesellschaft. Die Versorgungslage ist nach wie vor schlecht, die Arbeitsmoral auf einem ihrer vielen Tiefpunkte. Nur die Mobilisierung der Menschen zur Bewältigung der Krise könnte einen Ausweg bilden. Doch die ist nur erreichbar, wenn es Hoffnungen auf Besserungen, auf Veränderungen gibt. So spricht auch das polnische Episkopat in einer Verlautbarung davon, „daß es nun die Chance gibt, eine schmerzhafte Zeit der polnischen Geschichte zu beenden“ und daß mit der Amnestie eine neue Periode anbricht, in der Menschen mit anderer Weltanschauung „ihren Verstand, ihr Wissen und ihre Energie zum Wohle des Landes besser einsetzen könnten“. Wie soll das aber funktionieren, wenn die Menschen nicht über mehr Freiheiten verfügen können, als sie es jetzt tun? Mit der Aufnahme von Gesprächen zwischen kirchlichen und Regime–Experten schon vor Wochen hat das Regime zu erkennen gegeben, daß es zu Zugeständnissen bereit sein könnte. Ge rüchte über eine „Gewerkschaftspluralität“ in Großbetrieben tauchten auf (siehe taz vom 16.9.), innerhalb derer auch andere als nur die offiziellen Gewerkschaften agieren könnten. Die Kirchenspitze hat wiederholt zu erkennen gegeben, daß sie an einer Beendigung des „anormalen“ Zustandes mit staatlicher Repression hie und Untergrundkampf da interessiert sei. Preis für die unabhängige oppositionelle Bewegung wäre aber zu hoch, ließe sie sich mit einem vagen Versprechen auf Gewerkschaftsfreiheit abspeisen. Denn die Regierung fordert im Gegenzug schlicht und einfach die Auflösung der Untergrundstrukturen von Solidarnosc und anderer Gruppen. Dies bedeutete nicht nur die Legalisierung der noch im Untergrund Lebenden, dies bedeutete vor allem die Aufgabe einer Infrastruktur, die immerhin heute noch in der Lage ist, Tausende von Flugschriften, Zeitungen, Buchtiteln und Tonbändern zu produzieren und in Millionenauflage unter die Leute zu bringen. Von der Kirche fordert das Regime, die Freiräume aufzulösen, die dort existieren. Nicht nur, daß einzelne Priester eifrige Verfechter oppositioneller Ideen sind, sondern auch, daß die Kirchenräume für vielfältige Aktivitäten genutzt werden, ist sowohl dem Staat wie auch manchem Kirchenoberen ein Dorn im Auge. Denn die Nische bietet Künstlern Ausstellungsräume, dort werden Diskussionen, Theateraufführungen und Dichterlesungen organisiert. Die Gegenkultur ist ohne die Kirche nicht mehr denkbar. Auch wenn das Regime im Vorfeld der Amnestie über 3.000 Menschen durch die Geheimdienste „befragen“ ließ, und damit deutlich machte, daß es über die Untergrundaktivitäten genauestens Bescheid weiß, ist man in den oppositionellen Gruppen weiter selbstbewußt. „Das Regime muß nun handeln, nicht wir“, ist eine der vorherrschenden Meinungen. Nur unter bestimmten Bedingungen dürfe man einen Kompromiß mit der Regierung anstreben. Für Bujak z.B. müßte das Regime die bestehenden oppositionellen Aktivitäten - und damit Solidarnosc - nun legal zulassen. Andere Aktivisten weisen auf die unterschiedlichen Interessen und Strömungen innerhalb der Opposition hin. Für Gewerkschafter könnte der Gewerkschaftspluralismus in den Betrieben die Kompromißformel sein. Für die liberalen Kräfte, die für einen wenn auch begrenzten Markt eintreten, wäre eine Liberalisierung im Dienstleistungssektor und im Handwerk schon ein Fortschritt, um die bedrückende Versorgungslage zu verbessern. Die Legalisierung der Untergrundpresse und des Verlagswesens, die Abschaffung der Zensur und die kulturelle Freiheit sind für Intellektuelle unverzichtbare Bedingungen für einen Kompromiß mit dem Regime. Zusammengenommen würde die Realisierung dieser Forderungen die Grundstützen der polnischen Machtstruktur verändern. So möchte auch niemand daran glauben, daß es tatsächlich zu einem Kompromiß kommt. Erst in den nächsten Monaten wird sich herausstellen, ob die Amnestie tatsächlich der Auftakt für eine neue Politik der Regierung ist und nicht nur ein taktischer Winkelzug in Bezug auf neue Westkredite und den Papstbesuch im nächsten Jahr. Die Entscheidung über die Reichweite einer möglichen Öffnung aber wird nicht allein in Warschau getroffen. Und Gorbatschow hat die polnischen Arbeiter vor Abweichungen gewarnt.