: Angst vor einem behinderten Kind?
„Lieber heute behindert als morgen aus der Retorte!“ Die Diskussionsveranstaltung über Humangenetische Beratungsstellen im Rahmen der Antigena trug einen programmatischen Titel, um den Utopien aus den Forschungslabors der Humangenetiker und Gentechnologen von einer schönen, gesunden, gentherapierten Menschheit die alltägliche Realität entgegenzusetzen. Im Foyer des Architekturgebäudes der Technischen Universität traf sich zwischen Transparenten, Stellwänden und Büchertischen ein anderes Publikum als im ICC. Dort dominierten die Herren mittleren Alters in Anzug und Krawatte, hier die jungen Frauen. Zahlreich und unübersehbar waren die gekommen, um deren Leid die Humangenetiker so besorgt sind: behinderte Menschen, Frauen und Männer im Rollstuhl, mit Krücken, manche von ihnen ihr Kind auf dem Arm. Für die beiden Referenten Udo Sierck und Nati Radtke, beide selbst behindert und aktiv in „Krüppelinitiativen“, ist die selbstverständliche Gleichsetzung von Behinderung mit Leid der Grund, warum die Humangenetischen Beratungsstellen soviel Zuspruch erfahren. Allein in den drei Hamburger Instituten finden pro Jahr 4.000 Beratungen statt, mit steigender Tendenz. Seit der Eröffnung der ersten Stelle 1972 in Marburg haben sich über 40 solcher Einrichtungen in der Bundesrepublik etabliert. Damit sind sie längst Teil des staatlichen Gesundheitssystems und das Bindeglied zwischen der Grundlagenforschung der Molekularbiologen und der medizinisch–diagnostischen Anwendung. Und ein bevölkerungspolitisches Instrument ersten Ranges, wie Udo Sierck deutlich machte. Zitate aus den Publikationen von Humangenetikern lehren einen das Fürchten. Unverblümt kommt die eugenische Argumentation zum Tragen: Wenn schon so wenig deutsche Kinder zur Welt kommen, dann sollen sie wenigstens gesund sein. Die Praxis der Beratungsstellen, die Frauen nur eine scheinbare Wahl läßt, ihr behindertes Kind auszutragen, spricht allen Behinderten das Recht auf Leben ab, lautet die grundsätzliche Kritik. Künftig würden behinderte Kinder zusätzlich stigmatisiert: mit dem Kainsmal nämlich, nicht früh genug erkannt worden zu sein. Die politische Forderung könne nur lauten: Schließung aller humangenetischen Beratungsstellen. „Gibt es denn Alternativen zu den bestehenden Stellen?“ erkundigte sich eine Frau nach Ende des Vortrags, ohne zu ahnen, welche Entrüstung ihre Frage auslösen würde. „Warum bist du dann überhaupt hier, wenn du dir sowas überlegst. Denk lieber drüber nach, woher deine Angst vor einem behinderten Kind kommt“, schnitt ihr ein junger Mann im Rollstuhl brüsk das Wort ab. Nachdem selbst unverfängliche Informationsfragen, z.B. nach dem Anteil genetisch bedingter Behinderung mit einem rotzigen „Du kommst wohl vom ICC“ abgebügelt wurden, war es mit der Diskussion schnell vorbei. Verlangt wurden klare Positionen: Frauen sollen sich für oder gegen ein Kind entscheiden, aber nicht für oder gegen Behinderung. In der emotional aufgebrachten Atmosphäre konnte die Frage, ob man mit einer solchen rigorosen Haltung nicht ein neues Dogma für Frauen aufstelle, gar nicht mehr gestellt werden. Die zaghaften Versuche, zwischen der Position der Frauen und der Behinderten zu vermitteln, schlugen fehl. Auch Theresia Degener vom bundesweiten Zusammenschluß der Behinderteninitiativen paßte der Verlauf der Diskussion nicht. Moralischen Druck auszuüben, bringe überhaupt nichts, wandte sie ein. Das Publikum löste sich schnell in einzelne Grüppchen auf, nicht nur, weil schon der Hausmeister wartete. Unmut und Frust bei vielen: Wie solle man denn zu einer gemeinsamen politischen Strategie finden, wenn auf einem Forum wie der Antigena Widersprüche und Bedenken nicht laut werden können? „So blieb man/frau auf der Antigena nur unter sich“, zog eine Teilnehmerin Resümee. Eine Molekularbiologin, die sich vom ICC tatsächlich in eine Gegenveranstaltung zu Reproduktionstechnologien „verirrt“ hatte, bekam nicht einmal eine Chance, Gehör zu finden. Mit einer „Faschistin“ würden sie nicht diskutieren, verkündeten einige radikale Wortführerinnen, und der Biologin blieb nichts anderes übrig, als den Raum zu verlassen. Helga Lukoschat
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