Der Tanz um den menschlichen Zellkern

■ Heute gehen der 7. Humangenetikerkongreß und die Gegenveranstaltung „Antigena“ in Berlin zu Ende.

Jung, sympathisch und engagiert sind sie, die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die in Berlin zusammenkamen. Nachvollziehbar ihr wissenschaftlicher Eifer, glaubwürdig ihre Überzeugung, zum Wohle der Menschheit zu arbeiten. Erst wenn man ihre Forschung im Zusammenhang betrachtet, zeigt sich, daß oft die Forscherneugier blanker Zynismus und der Dienst an den kranken Menschen das Schmieden an einer furchtbaren Waffe ist. Der Gegenkongreß „Antigena“, der vom Feministischen Frauengesundheitszetrum und den Grünen veranstaltet wurde, konnte diese Dimension kaum erfassen, weil sich viele Teilnehmerinnen weigerten, sich mit den Methoden der Genetik genauer zu beschäftigen.

Ein Foto zeigt eine sehr hagere junge Frau. Sie ist nackt vor eine kahle Wand gestellt, ihr Kopf ist mit einem Tuch verhüllt. Die 25jährige Inderin ist das Forschungsobjekt einer Gruppe von Humangenetikern aus Gujarat in Indien.“Abnormal lange Arme, verkümmerte Geschlechtsorgane, geistige Entwicklung normal, Diagnose: dreifaches X– Chromosom“. Auf einem zweiten Foto haben anonyme Hände ihre Schamlippen auseinandergezogen, um die Betrachter bis tief in die Vagina hineinsehen zu lassen. 7. internationaler Humangenetiker–Kongreß im Berliner Kongreßzentrum. 2.000 Humangenetiker tauschen während der einwöchigen Tagung in 50 Veranstaltungen ihre Forschungserfolge aus. Während der Pausen wandern die Wissenschaftler zwischen den 1.200 Stellwänden in den Gängen und Foyers des Kongreßzentrums herum, auf denen jeder, der des wollte, seine Forschungsarbeit ausstellen konnte. Die Stellwände sind bedeckt mit Stammbäumen, Chromosomen–Bildern, Gen– Modellen, und überall werden Zungen, Augen, Hände, Füße Geschlechtsteile ins Bild gezerrt. Das Jahrhundert–Werk Der Kongreß steht im Zeichen eines wissenschaftlichen Jahrhundert–Werkes: der Entschlüsselung und vollständigen Kartierung aller 50.000 Gene, die sich als Teile des Riesenmoleküls Desoxyribonukeinsäure (DNS) im menschlichen Zellkern verbergen. 950 dieser Gene sind bisher bekannt und auf der DNS lokalisiert, berichtet der prominente Humangenetiker Victor McKusick aus Baltimore auf einer der Plenarveranstaltungen. In 15 Jahren, also beim drittnächsten Humangenetiker–Kongreß, so prophezeit McKusick, wird man eine vollständige Karte der menschlichen DNS vorlegen können. Das bedeutet nach dem Verständnis der Wissenschaftler, den Schlüssel zu allen erblich bedingten Krankheiten in der Hand zu haben. Krankheiten, Mißbildungen oder auch nur geringe körperliche Abweichungen von der Norm sind für die Wissenschaftler Indizien, die ihnen zur Identifikation bisher nicht bekannter Gene dienen. Bevölkerungsgruppen oder geographische Giebiete, in denen bestimmte Krankheitsbilder besonders ausgeprägt vorkommen, wurden wegen ihrer besonderen Eignung für Reihenuntersuchungen zwischen den Teilnehmern gehandelt wie Tips beim Pferderennen. Zum Beispiel die pakistanischen Immigranten in Großbritannien. Durch Vetternheirat züchten sie in ihren Reihen geradezu ein bestimmtes mutiertes Gen, das für die schwere Krankheit Thalassemia verantwortlich gemacht wird. Zum Beispiel die kleine amerikanische Sekte der Hutterer. Alle 35.000 Mitglieder stammen von den 200 im letzten Jahrhundert eingewanderten Sektengründern ab, heiraten stets untereinander und sind ausgesprochen kinderreich. Außerdem sei ihre genetische Struktur keinerlei schädigenden Umwelteinflüssen ausgesetzt, weil Alkohol und Tabak streng verboten sind und sich alle Sektenmitglieder nach den gleichen Regeln ernähren, lobt eine Chicagoer Forschergruppe, die an Huttererfamilien untersucht, wie ein bestimmtes HDLA–Antigen durch die Generationen gereicht wird. Als interessante Indikatoren werden auch Pigmentflecken oder Anomalien in den Handlinien gewertet. Ein Forscher macht auf die Merkwürdigkeiten im Cromosomenaufbau eines sechsjährigen Jungen aufmerksam, dessen eigenartiges, „schwer frisierbares“ Haar ihn auf die Spur geführt hat. Umwelt– und Psycho–Gene Werner Goedde vom Hamburger Institut für Genetik untersucht das Phänomen, daß Asiaten offensichtlich weniger leicht dem Alkoholismus verfallen als westliche Menschen. Sie vertragen nur sehr kleine Alkohol–Mengen, weil ihnen ein Alkohol abbauendes Enzym ADLH I fehlt. Die zugehörigen Gene sucht Goedde jetzt auf der großen, weißen Gen–Weltkarte. Der US–Forscher John Nurnberger beschäftigt sich mit genetischen Ursachen für „Verhaltensstörungen“, untergliedert in Schizophrenie, Depression, Alkoholismus, „antisoziales Verhalten“ und „Kriminalität“. Seine Methode besteht darin, Versuchspersonen, jeweils eineiige und zweieiige Zwillinge und nicht verwandte Personen, mit verschiedenen Psychopharmaka zu füttern. Das Maß der Übereinstimmung in der Reaktion genetisch gleicher Menschen interpretiert Nurnberger als Maß für die genetische Bedingheit psychischer „Krankheiten“. Das Publikum reagiert skeptisch, aber dennoch sehr interessiert. Großangelegte genetische Reihenuntersuchungen und vorgeburtliche Diagnostik sollen helfen, schwerste Behinderungen und Krankheiten und damit großes Leid von Eltern und Kindern zu verhindern. Doch dazu müssen die Bevölkerungsgruppen, denen diese Hilfe zugedacht ist, erst mal einsichtig gemacht werden. In Sardinien, Griechenland und Zypern (Verbreitungsgebiet der Thalassemia–Krankheit) wird seit einigen Jahren unter Federführung italienischer Forscher ausprobiert, wie flächendeckende genetische Beratung am effektivsten durchgeführt werden kann. In Zypern, wo 16 krankheitserregenden Gene sind, bekam die Forschergruppe unerwartete Hilfe von kirchlicher Seite. Zypriotische Popen, die sowohl gegen die Abtreibung als auch gegen die Krankheit sind, trauen nur noch Paare, die sich vorher einer genetischen Untersuchung unterzogen haben, berichtet die britische Humangenetikerin Modell und betont gleichzeitig, daß sie solche Zwangsmaßnahmen ablehnt. Die Erfolge in der genetischen Beratung interessieren auch noch in einem anderen Zusammenhang. Wenn zum Beispiel nur ein Teil der vorhergesagten Krankheitsfälle wirklich eintritt (und man darf wohl davon ausgehen, daß die abgetriebenen Kinder daraufhin untersucht werden) dann läßt das den Rückschluß zu, daß der genetische Zusammenhang doch noch nicht richtig interpretiert ist. „Wir wollen den Menschen nicht genetisch verbessern“, betonen einige führende Genetiker im Streitgespräch mit Jounalisten, „weil wir gar keine Kriterien dafür haben“. Gleichwohl wird das Skalpell gewetzt. Dem Forscherteam von Prof. Smithies von der Wisconsin Universität in den USA ist es vor kurzem zum ersten Mal geglückt, ein einzelnes Genom, das für die Produktion des ß– Globins zuständig ist, gezielt auszutauschen. Bisher ist das immer nur zufällig in einer langen Reihe von Versuchen gelungen. Smithies prophezeit, daß es mit dieser Methode schon in einigen Jahren möglich sein wird, „Modelle“ menschlicher Krankheiten an Mäusekörpern exakt nachzubilden. Und in nicht allzu ferner Zukunft, so schätzt er ein, wird man auf diese Weise jedes beliebige Genom genau plaziert in eine DNS einschleusen können. „Aber ich lebe dann wohl nicht mehr“, meint Smithies lächelnd. Die zum großen Teil sehr jungen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wandern unterdessen an den Stellwänden entlang zu einer anderen Fotoausstellung. Am Eingang des Kongreßzentrums können sie Aufnahmen von der Eröffnungsfeier kaufen. Man sieht lachende, sekttrinkende und händeschüttelnde Kongreßteilnehmer, strahlende, vom Blitz hell erleuchtete Gesichter. Ob einer der Wissenschaftler bereit wäre, sich nackt mit verbundenen Augen ablichten zu lassen, weil es der Forschung seines Kollegen dient? Imma Harms