Neuer Spitzelskandal im Fall Schmücker

■ Der Berliner Verfassungschutz hat angeblich die Mordwaffe verschwinden lassen, um sich und einen bisher unbekannten V–Mann zu schützen / Die Staatsanwaltschaft prüft Ermittlungen / Der Zeuge ist verschwunden / Politiker halten sich bedeckt

Von Vera Gaserow

Berlin (taz) - Der Berliner Verfassungsschutz ist in den Mordfall Ulrich Schmücker, der die bun desdeutsche Justiz bisher schon mehr als zehn Jahre beschäftigt hat, offenbar noch stärker verwickelt, als die Kritiker dieses Verfahrens bisher versuchten nachzu weisen. Der Spiegel verfügt laut eigener Aussage jetzt über gesicherte Informationen, wonach der Verfassungsschutz schon unmittelbar nach dem Mord an dem jun gen Studenten Ulrich Schmücker im Juni 1974 durch einen V–Mann namens Volker Weingraber in den Besitz der Tatwaffe kam. Seither soll der Verfassungsschutz dieses wichtige Beweismittel auch vor den Gerichten geheim halten, um seinen V–Mann Weingraber zu schützen und um zu vertuschen, daß man innerhalb des Geheimdienstes sehr genau wußte, daß Ulrich Schmücker wegen seiner belastenden Aussagen beim Verfassungsschutz von seinen ehemaligen politischen Genossen als „Verräter“ umgebracht werden sollte. Ausgerechnet am Tattag selber soll der Verfassungsschutz die Observation der Gruppe abgebrochen haben, der später der Mord angelastet würde. Sollten diese Informationen des Spiegels stimmen, dann hätte der Berliner Verfassungschutz nicht nur zehn Jahre lang die Justiz bewußt in die Irre geführt, sondern sich des Straftatbestandes der Strafvereitelung, der Falschaussage und des Meineids in dem längsten Verfahren der deutschen Justizgeschichte schuldig gemacht. Da kaum anzunehmen ist, daß diese Praktiken ohne Absegnung der VS–Spitze des Berliner Innensenats und der ermittelnden Staatsanwälte von statten ging, wären die Spiegel–Enthüllungen, die aller Wahrscheinlichkeit nach aus geheimen Quellen des Verfassungschutzes selber stammen, von hoher politischer Brisanz. Als den „unglaublichsten Verfassungsschutzskandal“ kommentierte gestern der Journalist Stefan Aust, der selber in seinem Buch „Hundert Blumen“ die Verwicklung des Verfassungsschutzes in den Mordfall Schmücker recherchiert hatte, die Spiegel– Veröffentlichung. Die in diesen Skandal verwickelten Berliner Behörden wollten gestern keinen Kommentar abgeben. Fortsetzung auf Seite 2 Der Sprecher des Berliner Innensenats, Birkenbeul, meinte, in den Berichten, daß der Verfassungsschutz bewußt Beweismittel habe verschwinden lassen, brauche man nicht unbedingt einen unglaublichen Vorgang zu sehen. Außerdem stimme ja nicht alles, was der Spiegel schreibe. Die Berliner Staatsanwaltschaft wird in den nächsten Tagen nach einer Vorprüfung entscheiden, ob sie ein Ermittlungsverfahren gegen führende Verfassungsschützer wegen Strafvereitelung, Falschaussage bzw. Meineids einleitet. Die Alternative Liste erklärte, daß nun das Abgeordnetenhaus gezwungen sei, die Verfassungsschutzpraktiken zu prüfen. Kernfigur der im Spiegel dargestellten Verwicklung des Ver fassungsschutzes in den Mordfall Schmücker soll Volker Weingraben gewesen sein, den der VS angeblich in die linke Szene Berlins eingeschleust hatte. Weingraben hat 1974 in engem Kontakt mit der politischen Gruppe um Ilse Schwipper gestanden, der die Justiz den Mord an Ulrich Schmücker zur Last legt. Ilse Schwipper und mehrere jugendliche Mitangeklagte wurden unter dem Vorwurf des Mordes bisher dreimal verurteilt. Zwei Urteile wurden bisher vom Bundesgerichtshof wieder aufgehoben. Auch gegen das jüngste lebenslängliche Urteil, das eine Berliner Strafkammer nach einem skandalösen Prozeßverlauf im Juli dieses Jahres aussprach, werden die Verteidiger der Angeklagten in die Revision gehen. Die Chancen, daß auch dieses Urteil gerade wegen der vielen Ungereimheiten und von den Geheimdiensten zurückgehaltenen Akten wieder aufge hoben wird, stehen gut. Sollten die Informationen des Spiegel stimmen, bedeuten sie jedoch nicht nur einen schweren Vorwurf gegen den Verfassungschutz, sondern auch eine Belastung für die Angeklagten. Denn laut Spiegel soll Ilse Schwipper einen Tag vor dem Mord vom Verfassungschutz bei einer vermeintlichen Tatortbesichtigung observiert worden sein. Außerdem will V–Mann Weingraber unmittelbar nach der Tat von dem angeklagten Weßlau eine Pistole erhalten haben, die er dann postwendend an den Verfassungschützer Grünhagen weitergegeben haben will. Weingraber selber galt in der linken Szene nicht als V–Mann. Er war nach dem Mord an Schmücker kurz festgenommen worden und dann ins Ausland gegangen. Die Verteidiger im Schmücker–Prozeß hatten mehrmals vergeblich versucht, Weingraber als Zeugen zu laden und die über ihn beim Ver fassungsschutz existierenden Akten beizuziehen. Das eine war vom Verfassungsschutz, das andere vom Gericht abgelehnt worden. Die Verteidiger im Schmücker– Prozeß äußerten gestern einige Zweifel an der Zuverlässigkeit der Spiegel–Informationen. Wenn der Bericht stimme, dann sei jedoch umso mehr das gefragt, was die Verteidigung seit Jahren vergeblich fordere: daß sämtliche Akten des Verfassungsschutzes über den Mordfall Schmücker offengelegt werden und die Tatwaffe - so sie wirklich im Tresor des VS lagere - den Gerichten präsentiert wird. Außerdem müsse Weingraben endlich als Zeuge vernommen werden.