P O R T R A I T Mit Milch zum indischen Frieden

■ Friedenspreis für den Inder Verghese Kurien, der mit Hilfe von europäischer Trockenmilch den indischen Subkontinent zum Selbstversorger von Milch machen will

Berlin (taz) - In einer Zeit, in der die Kritik an der Nahrungsmittelhilfe und an den verheerenden Auswirkungen der EG–Agrarüberschüsse auf Länder der „Dritten Welt“ lauter wird, sieht die Verleihung des Wateler– Friedenspreises 1986 an den Inder Dr. Verghese Kurien wie eine gut geplante PR–Maßnahme aus. Denn Kurien ist Vater der Operation Flood, das EG–Paradepferd für die These, daß Nahrungsmittelhilfe Hilfe zur Selbsthilfe sein kann. Kuriens Werdegang ähnelt der Geschichte vom Schuhputzer, der zum erfolgreichen Geschäftsmagnaten aufsteigt. 1949 kam der junge Ingenieur nach Anand im nordwestindischen Bundesstaat Gujarat, um eine Milchmaschine zu reparieren. Auf Bitten einer lokalen Molkereigenossenschaft blieb er - und dreißig Jahre später war er nicht nur Chef von AMUL, dem größten indischen Nahrungsmittelkonzern, sondern auch verantwortlich für den Aufbau einer modernen Milchwirtschaft in ganz Indien. Als Vorkämpfer der Genossenschaftsbewegung sitzt er in zahlreichen Verbänden, vorübergehend war er auch mal Rektor der landwirtschaftlichen Universität von Gujarat. Steigbügelhalter für Kuriens geschäftlichen Aufstieg waren Gujarats Milchbauern, deren Genossenschaften er zum Großkonzern AMUL zusammenfaßte. Heute beherrscht AMUL den indischen Markt für Milchprodukte. Die als preiswürdig befundene Seite seines Wirkens betrifft die auch als Weiße Revolution betitelte Entwicklung der Milchwirtschaft Indiens. Seit Anfang der 70er Jahre wird im Rahmen dieses weltgrö ßten milchwirtschaftlichen Entwicklungsprogramms die Bildung von Molkereigenossenschaften gefördert und eine bessere Milchversorgung für die Städte aufgebaut. Finanziert wird dieses landesweite Projekt, das bislang mehr als eine Milliarde DM verschlang, durch kostenloses Milchpulver aus EG–Beständen, das, zu Trinkmilch rekombiniert, an die städtische Bevölkerung verkauft wird. Die Einnahmen werden dann für die Bildung von Genossenschaften, für Produktivitätsverbesserungen und für Transport und Verteilung von Milch und Milchprodukten in den Städten verwendet. Einige wenige Kritiker ließen sich von den sichtbaren Erfolgen wie einer verbesserten Versorgung für die kaufkräftigen Schichten in den Städten, genossenschaftlichen Molkereien, Milchverkaufsautomaten, Futtermittelfabriken, Fabrikationsanlagen für Milchpulver usw. nicht beeindrucken. Beklagt wurde, daß die bessere Versorgung der Städte auf Kosten der Selbstversorgung der Armen auf dem Land ging. Die versprochenen Produktionssteigerungen seien ausgeblieben, und nicht vorrangig die ärmsten Familien, sondern die wohlhabenden Bauern profitierten von den Fortschritten und den gewinnbringenden Vermarktungsmöglichkeiten. Kuriens Entgegnung auf den Einwand, Operation Flood sei weit hinter den Versprechungen zurückgeblieben: „Man muß auf die Sterne zielen, um die Baumwipfel zu treffen.“ Während die Frage nach den sozialen und wirtschaftlichen Folgen dieser Revolution heute nur noch einige Sozialwissenschaftler bewegt, bekommt der Vorwurf, das ganze Projekt sei ein Beispiel für europäischen Milch–Imperialismus, der Indien in neue Abhängigkeiten führe, neuen Auftrieb: Indien hat für eine weitere Phase des Programms abermals Hilfslieferungen und einen Weltbankkredit von mindestens 150 Mio. US– Dollar beantragt - noch also hat sich die Hilfe nicht selbst überflüssig gemacht. So schleicht sich der klammheimliche Verdacht ein, daß der Preis, der von einer Stiftung mit Sitz im niederländischen Gravenhage vergeben wird, auch dem Mann gilt, der geholfen hat, daß die EG trotz ihrer teuren Überschüsse ein gutes Gewissen als Entwicklungshelfer zur Schau tragen kann. Uwe Hoering